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«Draussen vor der Tür»

2016 ist nicht 1946, aber Wolfgang Borcherts dramatischer Aufschrei «Draussen vor der Tür»ist leider aktueller denn je – doch auch so hoffnungslos? Ein Lichtblick im Advent.   

«Hundert Hände» strecken sich ihm entgegen; farbige, helle, dunkle Hände, lachende Gesichter, offene Münder mit weissen Zähnen. Einige wollen ihm direkt die Hand geben, die eine Hand legen sie sich auf ihre Brust, dort wo ihr Herz schlägt. Es sind alles junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren. Der Freiwillige wird freudig empfangen.

Es ist acht Uhr abends. Er liest das Tagesprotokoll, erhält vom Vorgänger die wichtigsten Informationen zum Tag. Der Ort, ein Zivilschutzzentrum, zwei Stockwerke  unter der Erde. Hier vermischen sich Tag und Nacht. Jürg ist jetzt allein, beginnt seine Arbeit dann, wenn andere sich zur Ruhe setzen, den TV einschalten und den Arbeitstag mit einem Glas Rotwein in der Hand ausklingen lassen.

Auch hier läuft der TV, an zwei verschiedenen Orten. Alte Sofas vom Brockenhaus stehen den Wänden entlang, sie sind voll besetzt von den Männern, die hier Zuflucht suchen und finden. Fremde, Flüchtlinge aus rund einem Dutzend verschiedener Staaten. Nicht alle wissen, woher sie kommen, nicht alle können schreiben und nicht alle wollen sagen, warum, woher und wie sie gekommen sind. Sie kommen aus Ländern, in denen ein normales Arbeitsleben kaum noch überlebbar ist.

Hier ist das Leben nachts voll im Gange. Die einen waschen, andere kochen, einige spielen Billard oder am Töggelikasten. Handys an den Ohren, Handys an die Ladestationen gekabelt. Lachen, lautes Durcheinanderreden, Gestikulieren, miteinander, manchmal auch gegeneinander. Hier wird geübt, nebeneinander zu leben, sich nicht in die Haare zu kriegen, auch dann, wenn ihre Heimatländer gegeneinander Krieg führen.

Jürg hat alle Hände voll zu tun. Hier werden Medikamente gefragt, dort wird nach Teebeuteln gerufen, fünf Kochherde, 20 Kochplatten sind in Betrieb, die Männer kochen sich ihre kargen Lebensmittel. Kochen? Für viele dieser Männer ist kochen neu. Sie kommen aus Ländern, wo Frau kocht und wäscht. Die Mikrowelle raucht, das Öl in der Pfanne spritzt auf den Boden, die Spaghetti rutschen über den Pfannenrand, die Kochplatten verfärben sich braun und gelb, der junge Mann rutscht auf dem Öl aus, schneidet sich an einer Kante. Jürg verbindet, hilft, beruhigt, erklärt auf englisch, mit Händen und Füssen; Hilfeleistungen hier, da und dort.

Einer der Männer liegt still auf einem Sofa. Jürg fragt: «How are you?». Er antwortet unhörbar, bleibt liegen. Das Telefon klingelt, er zuckt zusammen. In der Küche schrillt der Brandmelder, einer der Männer hat sein Essen verbrennen lassen. Der Mann auf dem Sofa fährt auf. Furcht und Angst sind ihm ins Gesicht geschrieben. Jürg weiss, er hat die Hölle erlebt in seinem Land. Was genau, weiss Jürg nicht.

Irgendwo streiten sich zwei Männer, Jürg geht hin, er will vermitteln, er weiss nicht, ob vielleicht sogar ein Messer gezückt wird, dann müsste er die Polizei rufen. Ein paar der anderen Männer stellen sich sofort auf seine Seite. Sie geben ihm beruhigende Zeichen.

Die Stunden bis Mitternacht lassen Jürg keine Verschnaufpause. Hier ist Leben; acht Meter unter dem Boden spielen Tag und Nacht keine Rolle mehr. Jürg setzt sich kurz an den Bürotisch, schreibt Protokolle. Einer der Männer kommt zu ihm, er schenkt ihm eine Banane. Jürg nimmt das Geschenk entgegen, im Tumult des Abends wird ihm warm ums Herz. Er weiss, die 9 Franken 50 Rappen, die die Männer zur Verfügung haben, reichen nicht weit – unten im Dorfladen.

Die Freiwilligen haben eine alte Nähmaschine organisiert. Amir versucht mit Gestik zu erklären, dass er Schneider war, in einer Massenanfertigungsschneiderei. Er setzt sich an die Nähmaschine, nimmt von seinen Kumpanen Kleider entgegen, die geflickt werden müssen. Er näht Knöpfe an, heftet Nähte zusammen, in diesem Metier ist er zu Hause, hier kann er vergessen und Hoffnung schöpfen – für eine kurze unbestimmte Zeit. Er weiss weder, ob er hier bleiben kann, noch wohin er wird gehen müssen, irgendwann ist er draussen, draussen vor der Tür.

Erneuter Alarm. Wasser fliesst über den Boden, bald sind Socken, Turnschuhe und Schuhe nass. Jürg springt umher, sucht den Haupthahn in den riesigen Räumen. Räume, die für uns gebaut wurden. Für uns Schweizer. 100 Leute, Familien, Junge und Alte könnten hier Unterschlupf finden, falls ein Krieg ausbrechen würde … Simba kommt zu Hilfe, er kennt sich aus, technisch und praktisch. Er findet das Leck und flickt es. Jürg merkt, hier ist ein Handwerker am Werk. Simba lächelt, seine weissen Zähne glänzen. Simba will arbeiten, will helfen, doch er weiss nicht, wie seine Zukunft aussehen wird.

Es ist zehn Uhr nachts. Jürg schaltet den Hauptschalter der Kochherde aus. Er geht zu den Männern. Wer möchte einen Spezialljob? Er setzt die Putztruppe zusammen. Es melden sich meistens die gleichen Burschen. Sie können mit diesem Job ein paar zusätzliche Franken verdienen. Die Böden, die Küche, die WCs müssen geputzt werden. Das Waschteam nimmt die Säcke mit der schmutzigen Wäsche entgegen, waschen, sortieren und verteilen. Jürg ist auf dem Kontrollgang. Die Luft ist stickig trotz laufender Ventilatoren und Lüftungen. Er geht kurz an die frische Luft. Auf der Treppe stehen Männer, Männer mit Handys, mit Zigaretten. „Seid ruhiger“ mahnt Jürg. Leute im Dorf möchten diesen Ort schliessen. Sie reklamieren wegen Lärm, wegen Abfall auf Zufahrtswegen, die zu dieser Unterkunft führen. Zum Glück nicht alle im Dorf.

Da ist dieser Bauer, bei dem Pakka hin und wieder hilft. Der Bauer ist sehr zufrieden mit Pakka. Er schenkt der Unterkunft Harassen voll mit Rüebli. Pakka hilft ihm gerne. Pakka weiss nicht, wohin er als nächstes kommt, wird er ausgeschafft, darf er bleiben…

Es ist zwei Uhr nachts, die Hausglocke schrillt laut. Der Mann auf dem Sofa schreit vor Angst, steht auf, will fliehen.

Draussen vor der Tür steht ein dunkler, junger Mann, ohne Gepäck, nichts. Er muss von weit weg zu Fuss gekommen sein, denn weder die Bahn noch ein Postauto fährt um diese Zeit. Jürg öffnet ihm die Tür: «Welcome, come on in!» Zwei Stockwerke unter dem Boden nimmt er ihn ins Büro. Er fotografiert ihn, fragt ihn nach der Herkunft, dem Namen, lässt ihn unterschreiben. Lesbar – unlesbar. Am nächsten Tag wird er ihn dem zugehörigen Amt melden.

Jürg holt die blaue-gelbe grosse Tasche hervor. Sponsoring einer grossen Firma. Darin sind eine Pfanne, ein paar Lebensmittel, Frottier- und Bettwäsche, Zahnpasta und –bürste. Kurz, alles was dieser unbekannte Mann jetzt braucht. Jürg zeigt ihm eines der Betten im langen Schlafsaal.

Langsam wird es still, es geht gegen zwei Uhr morgens. Ausruhen aber kann Jürg nicht. Hier ruft einer nach einem Beruhigungstee, der andere klopft an die Türe, möchte eine Kopfwehtablette haben, der Dritte hat vergessen, seine Medikamente anzufordern.

Sechs Uhr morgens. Jürg geht an die frische Luft. Schreibt eine SMS an seine Freundin: «Die Nacht ist gut verlaufen.»

Noch zwei Stunden, dann kommt das Tagesteam. Jürg verfasst das Nachtprotokoll.

Acht Uhr morgens. Jürg steigt nach oben, nach «draussen vor die Tür». Er weiss wohin. Er läuft durch den dunklen Wald, zur Bahn, nach Hause, in seine gemütliche Wohnung, todmüde, zufrieden – zum Ausruhen – vor der nächsten Nacht.

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