Afrika kommt zu mir

Malters, 7000 Einwohner, ausserhalb Luzerns gelegen, bekam vom Kanton 25 Asylbewerber zugewiesen. Und jetzt? Ruedi Isenschmid, pensionierter Obergerichtspräsident, erzählt von seinem Engagement.

Judith Stamm: Herr Isenschmid, Sie sind 67 Jahre alt, pensionierter Obergerichtspräsident. Wie kommen Sie dazu, sich für Flüchtlinge, junge Männer aus Eritrea, zu engagieren, statt das „dolce far niente“ zu geniessen?

Ruedi Isenschmid: Die erste Zeit meiner Pensionierung habe ich reichlich genutzt für Reisen in alle Welt. Heute sage ich: „Ich muss nicht nach Afrika gehen. Afrika kommt zu mir.“ Mein Engagement verdanke ich drei Frauen: Christine Buob, Sozialvorsteherin, Maria Birri, Schulsozialarbeiterin, und Rita Carlin, ehemalige Lehrerin. Kurz nachdem eine Gruppe von Flüchtlingen in Malters eingetroffen war, haben die drei sich zusammen getan unter dem Motto: „Integration für Asylsuchende“. Und um der Gruppe das nötige „Gewicht“ im Dorf zu verschaffen, baten sie mich um meine Mitarbeit. Ich sagte zu, denn vom „dolce far niente“ allein wird ein rüstiger Rentner nicht glücklich! Allerdings wussten weder meine Kolleginnen noch ich, worauf wir uns einliessen. „Integration“, ein heute viel benützter Begriff, tönt nämlich viel einfacher als sie dann in der Umsetzung zu bewerkstelligen ist. Das können wir heute, nach einem halben Jahr „Versuch und Irrtum“ aber auch „Versuch und Erfolg“ festhalten. Selbstverständlich arbeiten wir alle ehrenamtlich.

Yonas Habte aus Asmera (Eritrea) baut Vogelhäuschen. Ruedi Isenschmid kontrolliert die Arbeit.

Aber ich will jetzt nochmals genau nachfragen. Von Seiten des Kantons wurde Ihnen keine Verpflichtung auferlegt ausser, eine Unterkunft zu suchen, wo die jungen Männer einquartiert werden konnten. Wieso entschloss sich Ihre Gruppe, einen solchen Aufwand zu betreiben?

Wir können rechnen! Ob diese jungen Männer in unserem Lande Asyl erhalten werden oder nicht, weiss im Augenblick niemand. Falls sie Asyl bekommen, werden sie Arbeit suchen. Darauf müssen sie vorbereitet sein. Wenn sie nämlich keine Arbeit finden, werden sie Sozialhilfe beziehen. Und wer bezahlt diese dann, bitte schön? Es ist also nicht die schiere Nächstenliebe, die uns antreibt; da darf man unsere Motivation nicht überschätzen (sagt es mit einem Schmunzeln).

Wie werden denn die Flüchtlinge und die Bestrebungen Ihrer Gruppe im Dorf wahrgenommen?

Tja, es herrscht natürlich nicht nur eitel Freude und Sonnenschein, das können Sie sich etwa vorstellen. Aber deshalb „integrieren“ wir ja, und streben die Akzeptanz unserer Gäste durch die Dorfbevölkerung an.

Wie machen Sie das?

Wir haben unsere Arbeit strukturiert und drei Ressorts geschaffen: Beschäftigung, Freizeit, Schule. Das Ressort „Beschäftigung“ betreue ich. Und musste zuerst lernen, was mir da alles für Grenzen gesetzt sind.  Ohne Weiteres erlaubt ist eigentlich nur gemeinnützige Arbeit. Aber diese ist fein säuberlich aufgelistet im kantonalen Dokument, das ich mir beschafft habe.

Mit Greifzangen wird geputzt.

Da gibt es gemeinnützige Arbeit intern, also im und um das Haus, das die Flüchtlinge bewohnen. Dann die gemeinnützige Arbeit extern, an Kultur- und Sportanlässen oder im Natur- und Umweltschutz. Und dann die gemeinnützige Arbeit in der Landwirtschaft: Heckenpflege, Unterhalt Wanderwege, manuelle Ernte Hochstammobst und ähnliches mehr. Und was stellen Sie sich vor, wie hoch der Stundenlohn ist? Fr. 1.25. Die kommen dann zusätzlich zu den Fr. 14.—pro Tag, mit denen ein Asylbewerber seine persönlichen Bedürfnisse bestreiten muss.

Und wie kommen Sie zu Aufträgen?

Ich „acquiriere“. Am Anfang dachte ich, wenn es mit einem ersten Einsatz, etwa bei einem Bauern, gut gehen würde, werde sich das im Dorf herumsprechen.  Den Bauern fand ich, aber der Einsatz ging schief. So schief, dass unsere Gruppe eine Dolmetscherin kommen liess, die unseren Gästen klipp und klar unsere Werte vermitteln musste: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Selbständigkeit. Sie erklärte ihnen auch, dass wir bei jedem Wetter arbeiten und dass die Hände bei der Arbeit nicht immer sauber bleiben. So ganz langsam stellten sich dann kleine Erfolge ein.

Trinkpause nach der Strassenreinigung. Ruedi Isenschmid verpflegt die Eritreer (v.l. Tsegezab Ghebreyesus, Tesfay Teame, Angosom Todese, Tsehaye Selemun).

Was ist mit den berühmten Vogelhäuschen?

Das sind Vogelnistkästchen. Wir können hinter dem Wohnhaus der Eritreer einen Schuppen benützen. Dort werden aus Abfallholz einfache Vogelnistkästchen hergestellt. Ein Mitglied der Gruppe „Natura“, die es in Malters gibt, hat uns angeleitet. Für Bauern mit Obstbäumen sind diese Nistkästchen sehr nützlich.

Allerdings war es wieder nicht so einfach, den jungen Eritreern zu erklären, dass wir für Vögel „Häuser“ bauen.

In welcher Sprache sprechen Sie denn miteinander?

Mit Händen und Füssen! Nein, im Ernst, die Flüchtlinge haben Sprachunterricht. Meine Kollegin, Rita Carlin, vom Ressort „Schule“ hat Lehrerinnen und Lehrer mobilisiert und fertig gebracht, dass die Eritreer zwei Mal pro Woche Deutschunterricht erhielten. Unterdessen wird der Unterricht vom Kanton organisiert, in dessen Pflichtenheft er ja fällt.

Und es ist wie bei allem Sprachenlernen. Es gibt Menschen mit rascher Auffassungsgabe und solche, die mehr Zeit brauchen.

Also, Arbeiten und Deutsch lernen. Ist das alles, womit diese jungen Männer den Tag ausfüllen?

Mitnichten. Dafür haben wir ja das Ressort „Freizeit“. Und da hat sich die Verantwortliche, Maria Birri, ein ganzes breites Feld erarbeitet. So dürfen die jungen Männer einmal pro Woche beim lokalen FC auf dem Kunstrasenplatz tschutten. Acht pensionierte Männer sind für die Betreuung und die Benützung der Infrastruktur zuständig. Und Maria trieb dafür 25 Paar Nockenschuhe auf. Denn nur mit solchen darf der „heilige Rasen“ betreten werden.  Drei Männer spielen inzwischen in Teams des FC Malters. Es gibt die Teilnahme beim Lauftreff, beim Volleyballverein, beim Chorsingen. Und dann gibt es noch das „Weltcafé“, in welchem sich Einheimische und Flüchtlinge aus mehreren Nationen treffen können. So können sich die verschiedenen Kulturen einander annähern, sie können Deutsch sprechen und sie können zusammen singen.

Sind die Eritreer religiös?

Wir führen keine entsprechenden Gespräche. Aber sie gehören zur christlichen eritreisch-orthodoxen Kirche und besuchen in Luzern ihre Gottesdienste. Mein Eindruck von aussen ist, dass sie es ernst nehmen mit ihrer Religion.

Können Sie mir sagen, wie Sie heute das Wort „Integrieren“ erklären würden?

Ja. Einheimische und Flüchtlinge zu gemeinschaftlichem Tun, bei Beschäftigung oder Freizeitangeboten, zusammen bringen. Damit sie sich beschnuppern können. Damit sie sich beim gemeinsamen Einsatz helfen können. Damit sie sich offen in die Augen sehen können. Und im besten Fall zur Erkenntnis kommen: Die da, die anderen, sind „schon recht!“

Und jetzt, Hand aufs Herz, würden Sie diese Aufgabe nochmals übernehmen?

Ja, auf jeden Fall. Manchmal kämpfen wir mit Windmühlen, wenn wir nur an die Pünktlichkeit denken. Aber es zeigen sich immer wieder kleine Fortschritte, kleine Erfolge. Die Eritreer begreifen ganz langsam, wie das tägliche Leben in der Schweiz tickt. Dass Arbeit einen grossen Stellenwert hat. Und dass Kaffeetrinken und Fussballspielen Freizeitbeschäftigungen sind.  Und die Einheimischen erleben diese jungen Männer als willig, als einsatzbereit, als lernfähig. Das macht den ganzen Aufwand mehr als wett!

Herr Isenschmid, ich danke Ihnen für das Gespräch! 

Fotos: Josef Ritler

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