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Am Ende der Via Condotti

Mit großen Hoffnungen im kleinen Gepäck kommt Sándor Lénárd nach Rom – die Hoffnungen der Lesenden werden von den «Römischen Geschichten» nicht enttäuscht.

Wer Rom schon einmal besucht hat, ist vielleicht eher zufällig in die Via Condotti nahe der Spanischen Treppe geraten. Wenige Ecken weiter die Via della Vite wird wohl heute niemanden interessieren, den jungen Sándor Lénárd im Jahre 1938 jedoch schon, denn er braucht unbedingt ein ganz billiges Zimmer. Als er zehn Jahre zuvor schon einmal Rom besucht hatte, wohnte er in einer schöneren Pension, die er nun zuerst aufsucht. Er merkt schnell, dass er dafür nicht genug Geld hat. Sándor Lénárd, jüdisch-ungarischer Medizinstudent kurz vor dem Examen, ist nämlich überstürzt aus Wien geflüchtet, als Österreich den «Anschluss» an Hitler-Deutschland erfuhr. Sein erst jetzt auf Deutsch erschienenes Buch «Am Ende der Via Condotti» über seine Jahre im faschistischen Rom wurde 1969 in einem ungarischen Verlag veröffentlicht.

In der Via Condotti befindet sich auch heute noch ein historisches Kaffeehaus, das Caffè Greco, das damals der Treffpunkt der Emigranten in Rom war. Dort tauschte man die Informationen aus, die für die Flüchtlinge von Nutzen waren. Den einen gelang die Ausreise in ein sicheres Land, die anderen hatten einen Tipp, wo man sich ein paar Lire verdienen konnte. Im Café konnte man sich auch bloss mit geistreichen Leuten unterhalten, ein wichtiger Zeitvertreib für Menschen, denen in dieser Zeit jegliche reale Perspektive fehlte.

Eines der letzten Künstlercafés in Rom: Antico Caffè Greco © Lluis de Zamora / commons.wikimedia.org

Sándor Lénárd schreibt dazu: » . . . da verströmt das Caffè Greco schon seit zweihundert Jahren Mokkaduft . . . Wer sich hier ins Gästebuch einträgt, versinkt nicht mehr im Strudel der Zeiten. Ihn hat schon ein Sonnenstrahl der Poesie gestreift.»

Für Sándor Lénárd wird es mit der Zeit immer dringender, zumindest ein Minimum an Einkünften fürs Überleben zu finden. Monatelang hat er nicht einmal Geld, um eine feste Unterkunft bezahlen zu können. Jeder Tag bedeutet darum Kampf, wo er etwas zu essen bekommt und wo er sich ausruhen kann. Zeitweise fährt er nachts mit der Strassenbahn, die ringförmig um die Stadt herumfährt – diese Linie war gerade erst fertiggestellt worden. Kurz gesagt, der Autor lebt in sehr prekären und dazu unsicheren Verhältnissen, denn als einziges Dokument besitzt er eine Bestätigung, dass sein Pass auf der ungarischen Botschaft liegt. Abholen kann er den nicht, denn damit würde er als Jude riskieren, interniert oder direkt in ein Konzentrationslager geschickt zu werden.

Wer nun meint, dieses Buch zu lesen, wäre bedrückend, irrt sich total. Sándor Lénárd ist nicht nur ein scharfsichtiger Beobachter seiner Umwelt, sondern auch ein scharfsinniger Schriftsteller und noch dazu ein klassisch gebildeter. Er beherrscht die Kunst, die heiklen Zeiten von Mussolini-Diktatur und Krieg gescheit, genau und stets mit sehr viel Witz zu schildern. – Urkomisch, wenn der Autor beschreibt, wie die Römer, die in ihrer scheinheiligen Regimetreue eine Mussolini-Büste erworben hatten, diese auf die Strasse werfen, kaum dass Mussolini zum ersten Mal entmachtet wird. Sehnsuchtsvoll schreibt Lénárd über das letzte Kriegsjahr: «Und so wandelt man über die Via Veneto . . . und wartet auf seine Erlöser, die Amerikaner. Sie werden den Lebensstil herbringen, den man glatt übernehmen kann, der modern ist, einem gut zu Gesicht und nicht beschwerlich ist.» – Diese ironische Bemerkung stammt wohl erst aus den Jahren, in denen der Autor seine Erinnerungen niederschrieb.

Im Laufe der Zeit findet Sándor Lénárd seinen Platz im Viertel der kleinen Leute, er findet seine Gefährtin Diana und sogar eine kleine Tätigkeit, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Gegen ein geringes Entgelt misst er auf Wunsch den Blutdruck – und gibt wohl auch unverbindliche medizinische Ratschläge, ohne Examen darf er ja als Arzt nicht praktizieren. Erinnern Sie sich an die früheren Blutdruckmessgeräte zum Aufpumpen? Das waren keine kleinen elektronischen Dinger, die man als Fitnessmesser am Arm trägt.

Das Buch endet mit dem Ende des 2. Weltkrieges, als Sándor Lénárd, wie er selbst schreibt, in Rom inzwischen Wurzeln geschlagen hat. 1952 zieht er nach Südamerika. Zunächst arbeitet er im südbrasilianischen Staat Parana als Feldscher, später erhält er eine Stelle als Assistenzarzt in Sao Paulo. Schon in Rom hatte er übersetzt und Artikel für Zeitschriften und Zeitungen geschrieben, ebenfalls viele Gedichte. Dies setzt er in Brasilien fort und veröffentlicht seine Bücher auf Deutsch, Englisch und Ungarisch. Sein größter Übersetzungserfolg wurde die Übertragung von «Winnie-the-Pooh» ins Lateinische! Von 1960 an bis zu seinem Tod 1972 lebte er in seinem Haus in Dona Emma bei Blumenau / Santa Catarina. – Ein bemerkenswerter Mensch und ein empfehlenswertes Buch.

Sándor Lénárd, Am Ende der Via Condotti. Römische Geschichten
Aus dem Ungarischen übertragen und mit einer biografischen Notiz versehen von Ernö Zeltner.
Mit einem Nachwort von György Dalos.
dtv Literatur. Deutsche Erstausgabe 2017, 352 Seiten.
ISBN 978-3-423-28112-6

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