StartseiteMagazinGesellschaftCare Migrantinnen: Wo liegt das Problem?

Care Migrantinnen: Wo liegt das Problem?

Immer mehr Betagte werden durch ausländische Pflege-Migrantinnen betreut, oft in Grauzonen und unter prekären Bedingungen. Ein Interview mit Dr. phil. des. Sarah Schilliger.

Alte Menschen möchten zu Hause leben, auch wenn sie hilfsbedürftig sind. Ihre Wünsche werden heute respektiert. Bis sie Begleitung rund um die Uhr brauchen. Da finden sich kaum mehr Betreuerinnen aus der Schweiz, und wenn, dann nur zu kaum mehr bezahlbaren Löhnen. So ist es nicht erstaunlich, dass für Pflegebedürftige in Privathaushalten die Nachfrage nach Pflege-Migrantinnen steigt. Pendel- oder Care Migrantinnen kommen vor allem aus Osteuropa.

Bild: «Lebenslauf» von Adi Holzer, 1997

Care Migrantinnen – ein Hochseilakt zwischen zwei Notlagen?

Nur dank den ausländischen Pflegerinnen hätten ihre hochbetagten Eltern bis zum Tod im eigenen Haus bleiben und sterben können, lobt eine Grossfamilie dankbar im Nachruf. Nur mit Hilfe einer Care Migrantin könne sie ihren Mann zu Hause betreuen, erklärt meine über 80-jährige Kusine. Ein skrupelloses Geschäft, nennt die SonntagsZeitung die Vermittlung von Pflegerinnen aus Osteuropa.

Die Familien brauchen die ausländischen Pflegerinnen und möchten sie fair entlöhnen und behandeln. Es gibt Vorschriften für Anmeldung und Versicherungen und Richtlinien für Entschädigungen. Doch fehlen verbindliche Vereinbarungen für Arbeits- und Freizeit und eine grosse Anzahl von Agenturen vermittelt Personal zu unterschiedlichen Bedingungen. Was ist fair? Was ist illegal?

Sarah Schilliger forscht und publiziert seit 2009 über die Situation von Care-Migrantinnen und die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Arbeit.

Frau Schilliger, hat sich die Situation in der Schweiz seit 2009 verändert?

In den letzten Jahren ist in der Schweiz der Markt für Care-Arrangements mit Betreuerinnen aus osteuropäischen Ländern stark gewachsen. Dies lässt sich zum Beispiel an der Anzahl Firmengründungen im Bereich der 24-Stunden-Betreuung feststellen: Waren es vor fünf Jahren knapp ein Dutzend private Betreuungsunternehmen, die 24h-Betreuerinnen in Privathaushalte vermittelten, sind es heute über 50 Unternehmen – von kleinen privaten Spitex-Unternehmen, die 24h-Betreuung als zweites Standbein haben neben der stundenweisen Pflege und Betreuung, über grössere Schweizer Firmen, die speziell auf 24h-Betreuung spezialisiert sind bis hin zu den vielfältigen Formen von häufig im Ausland ansässigen Internet-Agenturen und multinationalen Konzernen. Der Markt hat sich weiter diversifiziert in den letzten Jahren: Heute gibt es Billigstangebote, z.B. von polnischen Entsende-Agenturen für 2000 Franken pro Monat (bei denen die Care-Arbeiterinnen jedoch behördlich nicht gemeldet sind), aber auch sehr teure Angebote, die dann über 10’000 Franken monatlich kosten.

Was sich aus der Sicht der Care-Arbeiterinnen geändert hat in den letzten Jahren ist die Einführung des Normalarbeitsvertrags für die Hauswirtschaft (in Kraft seit 1.1.2011). Damit wurde ein Mindestlohn von rund 18 Franken pro Stunde festgesetzt. Noch immer rechtlich unklar bleibt jedoch die Frage nach der Arbeitszeit: Wie viele zu entlöhnende Arbeits- und Bereitschaftsstunden leistet eine Care-Arbeiterin, wenn sie rund um die Uhr im Haushalt ist und auch in der Nacht abrufbar sein soll? Damit verbunden ist auch die Frage nach der Freizeit: Häufig werden den Care-Arbeiterinnen nur wenig Möglichkeiten geboten, um mal für eine längere Zeit zur Ruhe zu kommen, den Haushalt zu verlassen und sich von der Arbeit zu erholen.

Vor rund einem Jahr haben sich polnische Care-Arbeiterinnen selber zu Wort gemeldet und auf ihre prekären Arbeitsbedingungen, auf die tiefen Löhne, die fehlende Freizeit und die damit verbundene Isolation hingewiesen (vgl. z.B. https://www.woz.ch/1325/care-oekonomie/loehne-von-1200-franken-das-geht-nicht). Momentan läuft in Basel ein Gerichtsverfahren gegen eine private Spitex-Agentur, die ihre Care-Arbeiterin aus Polen nur 6 Stunden täglich entlöhnt hat. Die Polin klagt nun gerichtlich die vielen unbezahlten Überstunden und die Zuschläge für Sonntagsarbeit ein. Dieser Gerichtsentscheid könnte wegweisend werden für die zukünftige Praxis.

Ich habe Ihre Publikation „Transnationale Care-Arbeit: Osteuropäische Pendelmigrantinnen in Privathaushalten von Pflegebedürftigen“ vom 25.2.2013 mit grossem Respekt gelesen. Ihre Aufarbeitung der gesellschaftlichen und politischen Hintergründe, die Hinweise auf die Arbeits- und Lebensbedingungen und auf die rechtlichen Grauzonen, den möglicher Missbrauch und den politischen Handlungsbedarf sind wertvoll und bedenkenswert. Bloss – was tut eine Familie sinnvollerweise, wenn sie heute für einen hochaltrigen Menschen eine 24-Stunden-Betreuung braucht, welche keine Schweizerin mehr leisten will? 

Die Situation für Familien von Menschen, die auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind, ist nicht einfach: Häufig stehen sie ziemlich alleine da – sowohl was die Suche nach geeigneten Lösungen anbelangt (es ist schwierig und mühsam, sich in dem Dschungel an Dienstleistungsangeboten zurecht zu finden, häufig fehlen Anlaufstellen, die dabei unterstützen, informieren, koordinieren usw.), als auch, was die finanzielle Unterstützung betrifft (neben den medizinischen Pflegeleistungen, die krankenversichert sind, bleiben die meisten nicht-medizinischen Pflege- und Betreuungsleistungen und die Unterstützung im Haushalt ungedeckt, das heisst, sie müssen aus der eigenen Tasche finanziert werden).

Angebote im Internet werben bei den Familien mit ‚All-inclusive-Paketen’, bei deren Kauf ein „Quasi-Familienmitglied“ in den Haushalt vermittelt werde – und erst noch zu einem bezahlbaren Preis. Das tönt natürlich verlockend … Jedoch wird häufig vergessen, dass auch eine polnische Care-Arbeiterin ein Mensch ist und gerne mal Feierabend hätte, Anspruch auf einen ortsüblichen Lohn erheben kann, Erholung braucht, selber auch eine Familie hat usw. Denn warum soll nun eine Care-Arbeiterin aus Osteuropa drei mal 8-Stunden-Schichten aneinander leisten für weniger Lohn als eine Spitex-Pflegerin, die 8 Stunden täglich arbeitet? Die 24h-Betreuung in dieser Form ist häufig nur auf Kosten der Arbeits- und Lebensbedingungen der osteuropäischen Care-Arbeiterinnen möglich. Deshalb denke ich, dass dieses Arrangement nicht als DIE Lösung propagiert werden kann.

Leider mangelt es aber momentan häufig an Alternativen, oder diese sind für die Familien unbezahlbar. Doch immerhin gibt es zunehmend Initiativen, die vielversprechend sind: verschiedene Modelle der integrierten Versorgung, bei denen der Gegensatz zwischen ambulanter und stationärer Versorgung tendenziell aufgelöst wird, Mehrgenerationenhäuser oder betreutes Wohnen, wo sich mehrere Seniorinnen und Senioren gemeinsam eine Betreuung organisieren und wo das Personal dann auch geregelte Arbeitsverhältnisse hat.

Im Visier der Medien sind heute die Agenturen. Gibt es auch seriöse Vermittler? Oder ist eine legale Vermittlung in der Schweiz gar nicht möglich?

Der Vermittlungsmarkt ist sehr undurchsichtig, häufig ist es für ältere Menschen und ihre Angehörigen gar nicht so einfach herauszufinden, ob das Angebot im rechtlichen Rahmen liegt. Die Praxis der Entsendeunternehmen aus dem Ausland ist in der Schweiz nicht legal, weil Vermittlung nur durch in der Schweiz ansässige Firmen gemacht werden darf. Bei den Schweizer Unternehmen ist die Bandbreite sehr gross. Es gibt durchaus Firmen, die sich bemühen, die Rahmenbedingungen einzuhalten, z.B. was die Anmeldung der Pflegerinnen anbelangt, die Einzahlung der Sozialversicherungsbeiträge, die Einhaltung des Mindestlohns und die Gewährung von Ruhezeit. Bei der Frage der Arbeitszeit bewegen sich jedoch die meisten Unternehmen in einem Graubereich.

Ein Angebot von Caritas, das sich um „fair care“ bemüht und das ich am ehesten empfehlen kann, ist Zuhause betreut.

Pendelmigrantinnen kommen auch über persönliche Kontakte, Verwandte und Bekannte in die Schweiz. Agenturen müssen die Betreuerinnen bei Kurzaufenthalten bis zu 90 Tagen beim Arbeitsamt melden (Seite 149 von „Transnationale Care-Arbeit“). Müssen auch Private ihre Helferinnen dem Arbeitsamt melden?

Ja, auch Privathaushalte müssen ihre Arbeitskräfte beim kantonalen Arbeitsamt melden, auch wenn sie nur für 90 Tage in die Schweiz kommen. Weitere Infos finden Sie unter

Hauswirtschaft und Betreuung im Privathaushalt – Die rechtlichen Rahmenbedingungen

Im Rande einiger Publikationen findet sich der Verweis, dass der heute unregulierte 24-Stunden-Betreuungsmarkt auch finanziell weniger gut gestellten Familien die Möglichkeit bietet, eine Betreuungsperson im eigenen Haushalt anzustellen. Wie kann diese Chance für Minderbemittelte erhalten werden?

Es darf in meinen Augen nicht sein, dass die schwierige Lage von ärmeren Schweizer Familien mit Pflegebedürftigen durch die Anstellung von Care-Arbeiterinnen aus Osteuropa zu prekären Löhnen auf billige Art und Weise ‚gelöst’ wird. Hier ist der Sozialstaat gefordert: Es bräuchte einen Ausbau der solidarischen Unterstützung für Menschen, die im Alter auf Betreuung und Unterstützung im Haushalt angewiesen sind. Zunehmend entscheidet die Grösse des Portemonnaies über die Möglichkeiten des autonomen und würdigen Lebens im Alter – das ist eine gefährliche Entwicklung und vergrössert die Ungleichheiten zwischen SeniorInnen.

Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren über eine Pflegeversicherung nachdenken müssen, bei der auch die Betreuung im breiten Sinne versichert ist. Zentral ist dabei die solidarische Finanzierung einer solchen Versicherung – über progressive Steuern oder Erbschaftssteuern, und nicht wie es die Avenir Suisse vorschlägt über individualisiertes Ansparen ab 55 Jahren.

Könnten wir nicht Flüchtlinge bei uns arbeiten lassen, anstatt Leute aus Polen oder Portugal in die Schweiz zu holen, fragt Beat Meiner, Generalsekretär der Flüchtlingshilfe, in einem Interview in der Sonntagszeitung vom 3.8.2014. Denn die Schweiz brauche auf Grund ihrer demografischen Situation Leute von aussen, und Flüchtlinge würden nichts lieber als selbständig und in Frieden bei uns leben und arbeiten.

Bei dieser Frage kann ich mir eine grundsätzliche Bemerkung nicht verkneifen: Die Flüchtlingspolitik hat die primäre Aufgabe, Menschen Schutz zu gewähren und ihnen die Möglichkeit zu bieten, ein neues Leben aufzubauen. Wenn Flüchtlinge sich beruflich in der Pflege engagieren möchten, dann sollte dies unbedingt unterstützt werden, indem ihnen eine Ausbildung oder Weiterbildung ermöglicht und der Berufseinstieg erleichtert wird. Jedoch wehre ich mich gegen solche Nützlichkeits-Erwägungen, welche die Migrationspolitik heute von links bis rechts prägen: Migrantinnen und Flüchtlinge werden nur noch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft für ‚die Schweiz’ beurteilt.

Es muss in meinen Augen bezüglich Personalmangel in der Pflege um eine grundsätzlichere Debatte gehen: Weshalb ist denn die Pflegearbeit in der Schweiz so unattraktiv? Warum wollen so wenige diesen Beruf ergreifen? Und weshalb steigen so viele Pflegekräfte nach einigen Jahren aus dem Beruf aus? Die gesellschaftliche Anerkennung ist tief, es ist ein typischer Frauenberuf, die Arbeitsbedingungen sind häufig nicht so gut – nicht nur was den Lohn anbelangt, sondern vor allem auch bezüglich Stress und hohen Flexibilitätsanforderungen, die Burnout-Quote ist hoch.

Hier müsste doch angesetzt werden: Die Attraktivität von Berufen in der Pflege müsste erhöht werden – indem bessere Bedingungen geschaffen werden, indem den Pflegenden mehr Kompetenzen zugestanden werden, indem Care-Arbeit mehr wertgeschätzt wird usw. Dieser Wandel geschieht natürlich nicht von heute auf morgen. Was momentan läuft ist jedoch leider genau das Gegenteil: Mit Sparprogrammen, Rationalisierungen, Fallkostenpauschalen usw. wird der Pflegesektor in eine Richtung verändert, bei der die Arbeit in diesem Bereich noch unattraktiver wird.

Danke, Frau Schilliger, für Ihre Forschertätigkeit und Ihre Visionen für eine gerechtere Alterspolitik in der Schweiz. Ihnen bleibt noch Zeit für deren Verwirklichung. Wir Nutzer sind doppelt so alt wie Sie  und brauchen die Hilfe vielleicht demnächst… Mit diesem Einstieg und mit weiteren Beiträgen in loser Folge möchten wir informieren und uns auf eine Diskussion einlassen.

 

Dr. phil. des. Sarah Schilliger
Oberassistentin, Seminar für Soziologie, Universität Basel.
Sarah Schilliger, geboren 1979, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozio­logie an der Universität Basel und forscht zu Migration und sozialen Ungleichheiten.

Weitere Informationen:

Sarah Schilliger: Transnationale Care‐Arbeit: Osteuropäische Pendelmigrantinnen in Privathaushalten von Pflegebedürftigen, in: Schweizerisches Rotes Kreuz (Hg.): Who cares? Pflege und Solidarität in der alternden Gesellschaft, Zürich 2013, S. 142-161.

Zuhause betreut – das Angebot der Caritas

Rechtliche Rahmenbedingungen für Hauswirtschaft und Betreuung im Privathaushalt

Bild: Handkolorierte Farbradierung «Lebenslauf» aus der Rosentaler Suite von Adi Holzer 1997 (Werksverzeichnis 850). Aus Commons.wikimedia.org/wiki/File:Adi Holzer.

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