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Das papierlose Zeitalter

Lesen Sie noch die Zeitung aus Papier zum Frühstück? Das Papier, das Sie samt Gipfelibrosmen auf den Zeitungsstapel zum Entsorgen legen müssen?

Schreiben Sie noch Geburtstagskarten? Oder gar Briefe? Haben Sie überhaupt noch etwas in Ihrem Briefkasten? Braucht es die städtische Papierabfuhr noch? Werbung erhalten Sie am Computer, Sie brauchen den Kleber „Keine Werbung“ also nicht mehr. Sie kaufen wahrscheinlich in verpackungsfreien Läden, also «Zero Waste» ein? Verschmutzen Sie allenfalls noch mit dem Brot-, dem Blumen- oder dem Klosettpapier die Umwelt? Also gut, Letzteres ist etwas übertrieben, aber die digitale Klodusche würde ja reichen.

Ich sage Ihnen, wir schlittern in eine ganz saubere Umwelt. Ihre Zeitung ist auf Ihrem iPad, die Geburtstagwünsche sind auf WhatsApp, das Rendez-vous auf SMS. Selbst ein Rendez-vous beim Arzt, beim Optiker, dem Hörgeräteanpasser, ja, gar die Universitätsklinik Bern verschickt auf Wunsch Reminder per SMS auf Ihr Handy. Sie können erst noch den Klingelton wählen oder auch nur auf Vibration stellen.

Und schon bin ich bei der Krankenkasse. «Jetzt auf Online-Versand umstellen! Schonen Sie die Umwelt – verzichten Sie auf Papierversand.» Die Folge war, dass ich Zahlungen verpasste, und daraufhin verpasste mir die Krankenkasse Mahngebühren.

Apropos Arzt oder Pflegepersonal: Braucht es sie noch oder genügt ein Roboter?

Im Schaufenster unserer Apotheke steht: «Digitale Gesundheit – Baustelle Mann, im Zusammenhang mit Männerkrankheiten vom Haarausfall bis zum Herzkreislauf und noch viel mehr». Ich wusste nicht, was das ist und fragte nach. Digitale Gesundheit heisst: Mann trägt eine digitale Uhr, Sportarmband, Runninguhr, Trainingscomputer und so weiter. Geräte, die die wichtigen Daten zur Gesundheit aufzeichnen. Nein, nicht auf Papier, mit einem Klick auf Ihren Computer. Sie kennen das sicher, man kann über Unwohlsein, Diagnosen und Prognosen googlen und findet dann auch gleich die Lösung des Problems. – Als nicht unsportliche Frau, ich lief mehrere Marathons und 100 km Läufe, frage ich mich nun aber: Wo ist die Baustelle Frau? Braucht nur der Mann die digitale Gesundheit?

Letzthin konnte ich eine Sendung im TV mitverfolgen, das heisst nicht etwa verstehen, aber so viel verstand ich, die Forscher erfinden geniale Roboter. Da frage ich mich, ob sie nicht ihr eigenes Grab schaufeln. Was brauchen wir noch Forscher, wenn uns Roboter übernehmen?

Zumindest Personalchefinnen und –chefs braucht es künftig wohl nicht mehr, denn das Bewerbungsgespräch kann mit dem Computer gemacht werden anhand eines automatischen Telefongesprächs. Sie brauchen weder Papier noch ein ansprechendes Bild auf Hochglanzfotopapier. Die handgeschriebene Bewerbung ist ein Auslaufmodell. Wie geht es wohl den Graphologen? Es braucht kein Papier, keine Tinte, keinen Umschlag, nicht mal mehr eine gedruckte Marke aus Papier. Wenn wir uns früher nach dem Abstimmen im alten Schulhaus noch den ersten Apero genehmigten und über die Abstimmung sprachen, so mache ich das heute per Post. Doch lese ich im gedruckten «Der BUND: Es ist Zeit für das E-Voting».

Ein alt-Nationalrat und Architekt in meinem Alter stellt zurzeit Werke in einer Galerie aus. Er rief die lokalen Zeitungen an, damit sie auf seine Ausstellung hinweisen. «Das müssen Sie über Ihren Computer eingeben unter folgendem Link…» Er meinte zu mir: «Weder Papier, noch das Reden miteinander ist gefragt, ich habe zu wenig Computererfahrung, also lasse ich es bleiben.»

Auf dem Bildschirm lese ich: «Der Weg zur papierlosen Buchführung ist heute keine Zauberwerk mehr.»

Ich fühle mich wie Goethes «Zauberlehrling». Wo liegt denn dann der Zauber?

«Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.»

So schreibt Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“.

Auf meinem Ateliertisch liegen Skizzen- und Zeichenblätter und ein grosser Stapel handgeschöpftes Papier. Darunter, zur Schonung des Tisches, ein festes Unterlagspapier, bekleckst mit roten und schwarzen Pinselstrichen, goldigen Spritzern, Tintentolggen und Notizen. Es liegen Federhalter mit verschiedenen Federn, einige Pinsel, Pipetten, Tuschetöpfe in verschiedenen Farben da. Ich brauche viel Papier. Aus Skizzenpapieren und Entwürfen entstehen oft Geburtstags- und Einladungskarten, Kurznotizen, die damit einen ungewöhnlichen Charme erhalten.

Sie merken es. Ich schreibe, Briefe, Karten, Notizen. Ich verschicke sie per Post, suche jeweils eine farblich passende Briefmarke, mache ein grosses geschwungenes A, wenn die Post am nächsten Tag ankommen soll. Ich pflege die Handschrift, die sogenannte Schnürlischrift, ich verforme sie, ich zeichne mit ihr, es ist ein Rhythmus, es ist wie tanzen auf dem Papier. Schreiben befreit mich, befreit mich auch von der exakt gelernten Schulschrift. Es entsteht eine Linie mit ihren Spuren im Laufe der Zeit.

Wir Menschen, besonders auch wir älteren Menschen, werden ersetzt durch die digitale Welt, die Welt der Roboter. So scheint es mir.

Meine handgeschöpften Papiere werden von Menschen geschöpft, die tagsüber in einer betreuten Arbeitsstätte arbeiten. Die Briefmarken werden von Künstlerinnen und Künstlern entworfen und in einer Druckerei gedruckt. Irgend jemand hat tags darauf einen Brief im Briefkasten.

Es ist meine Leidenschaft, vielleicht auch ein Konservieren von etwas, das langsam verschwindet – und auch ein bisschen ein Manifest.

Darin liegt mein Zauber.

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