StartseiteMagazinGesellschaftDas Stachelschwein im Reihenhaus

Das Stachelschwein im Reihenhaus

Die Ausstellung «Hallo Nachbar!» im Vögele Kultur Zentrum weckt eigene Erlebnisse und hilft das System des Zusammenlebens zu verstehen.

Dem Nachbarn die Türe öffnen und ihn zu einem Drink einladen, das zaubert Poesie ins Leben, schreibt Yves Bossart im Bulletin zur Ausstellung, unter dem Thema «Nachbarschaft ist eine Zumutung, ähnlich wie das Leben».

Die Ausstellung beginnt mit einer Familie von Stachelschweinen vor einer Bilderwand über das Leben in einer Reihenhaussiedlung. So wie die Stachelschweine Wärme in gegenseitiger Nähe suchen und dabei Distanz halten, um sich nicht zu verletzen, so sorgfältig müsse der Mensch die Beziehung zu seinem Nachbarn pflegen. Der Vergleich stammt vom Philosophen Arthur Schopenhauer.

Ausstellungsansicht Vögele Kultur Zentrum, «Hallo, Nachbar! – Der tägliche Tanz um Nähe und Distanz», Foto Nadia Sambuco

In der Reihenhaussiedlung finden sich alltägliche Zeichen von Schwellen oder Stolpersteinen im Zusammenleben. Wie die Strohmatte als Sichtschutz zwischen zwei Sitzplätzen. In den 70er-Jahren haben wir eine solche Wand mit schalen Gefühlen eilig montiert, um unseren Esstisch dem Blick des Nachbarn zu entziehen. Solche Gewissensbisse verflüchtigen sich in der Ausstellung.

Nachbarn sind zufällig zusammengewürfelte Individuen, Menschen mit eigenem Charakter, unterschiedlichen Kulturen und Vorstellungen. Nachbarschaft lässt sich nicht wirklich planen, erklären die Ausstellungsmacher.

Zaun und Wand trennen und verbinden

Die Ausstellung beleuchte wichtige Aspekte, ohne Lösungen anzubieten, erklärt Monica Vögele, die Leiterin des Vögele Kultur Zentrums. Es gebe nur wenige Ausstellungen zur Nachbarschaft, ergänzt Kuratorin Nina Wiedemeyer. In «Hallo Nachbar» handle es sich denn auch um ein erstmaliges Zusammentragen von Gegenständen. Zaun und Wand trennen und verbinden Menschen, beschreibt Szenograf Jean-Lucien Gay, und zieht diese Elemente durch die Ausstellung.

Bild: Aus der Serie «Nachbarschaft» – eine fotografische Studie einer Reihenhaussiedlung in Kaiserslautern, 2009, copyright Andreas Herzau/courtesy SOIZ Galerie, Passau

Die Ausstellung gliedert sich in die fünf Bereiche «Nachbarschaft», «Umsorgen und Streiten», «Forum», «Nähe und Distanz» und «Unter Beobachtung».

In der Studie «Nachbarschaft» aus einer Reihenhaussiedlung aus Kaiserlautern kreisen die Diskussionen um Nähe und Distanz. Sind sich die Nachbarn einig, so schafft diese Einigkeit auch Raum für Gemeinschaft und für den gewünschten Rückzug.

Mit «Umsorgen und Streiten» wird die gegenseitige Abhängigkeit betont. Nachbarn können sich unkompliziert Hilfe und Unterstützung bieten, wenn sie offen miteinander reden und beim Nachbarn andere Wertvorstellungen und Gewohnheiten respektieren. In der «Galerie der Nachbarschaftsdinge» finden sich Symbole zu Geschichten die bewegen oder zu kuriosen Streitfällen führen.

Engagement oder anonymer Lebensstil

Das «Forum» bildet das Zentrum der Ausstellung. Tische und Stühle laden ein, zusammenzusitzen und zu diskutieren. Obwohl in Städten ein anonymer Lebensstil gepflegt wird, sehnen sich viele Menschen nach Zusammenhalt, nach lokaler Freizeitgestaltung und Unterstützung. Nachbarschaft lebt dank dem Engagement von Menschen.

Künstler Andreas Koch fotografiert in seiner Bildserie «Rosenthaler Platz» die Gebäude und radiert die Menschen aus dem Bild. In der Stadt ohne Bewohner gibt es keine Nachbarschaft.

Kateřina Šedà hat die Bewohnerinnen im tschechischen Nošovice eingeladen, das Zusammenleben im Dorf auf Tischtücher zu sticken, in einem Dorf, dessen Zentrum neu von einem riesigen Produktionswerk belegt ist. Die Bilder der Frauen legen sich um einen Leerraum im Zentrum.

Köbi Gantenbein, Chefredaktor und Verleger von «Hochparterre», verweist auf die Nachbarschaftskultur, welche die Allmende in den Alpen und in vormoderner Zeit gepflegt haben und nennt im Bulletin zur Ausstellung die 10 Gebote der Allmende, die auch für Gegenwart und Zukunft gelten.

Die Balance zwischen Nähe und Distanz

Bild: Die Galerie der Nachbarschaftsdinge. Im Vordergrund ein Bootsfender für Sylvia Bachofen, die mit ihrem täglichen Schwumm in Stäfa das Schiffshorn verteidigte. Ausstellungsansicht, Foto Nadia Sambuco

Obschon die Wohnung als Rückzugsort gilt und die Ruhe in den eigenen vier Wänden ein grosses Bedürfnis ist, wird heute geforscht und geplant, wie sich Umfeld und Nachbarschaft im immer dichter besiedelten Wohn- und Stadtraum lebenswert gestalten lassen. Unsere Gesellschaft setzt auf funktionierende Nachbarschaft und auf gegenseitige Hilfeleistungen.

Beispiele sind die Siedlung Frieden in Zürich-Affoltern, die Wohn– und Gewerbesiedung Kalkbreite, die Wohn- und Geschäftsüberbauung JAMES und die Siedlung Himmelrich 3.

Wird Wohnen in Gemeinschaft wichtiger? Was optimistisch klingt, kann auch misslingen. Nachbarn wollen nicht zentral gesteuert werden. Grossprojekte aus der Zeit um 1950 wurden aufgegeben und die 33 Hochhäuser der Siedlung Pruitt-Igoe St-Louis 1970 gesprengt. Die Architektur muss eine überschaubare Struktur schaffen, die Veränderungen zulässt und von den Bewohnern dynamisch entwickelt werden kann.

Nachbarn werden auch sinnlich und vor allem akustisch wahrgenommen. Lärmbelastung stört: Baulärm, Strassenlärm und die Nachbarn. Sarah von Sonsbeck treibt die akustische Belastung durch Lärm auf die Spitze, berechnet den Raumanteil, den die Nachbarn akustisch in ihrer Wohnung benutzen und stellt ihnen mit dem «letter to my neighbours» 80 % ihrer Miete in Rechnung.

Norman McLaren, Neighbours/Voisin, 1952, 16mm-Film, 9:00 min. Regisseur/Produzernt: Norman McLaren. Foto: Jean-Paul Ladouceur, Grant Munro. Copyright 1952 National Film Board of Canada. All rights reserved.

Neugier, Fantasien und Neid

Das Leben der Nachbarn regt an zum Beobachten und zum Vergleichen. Neugierig sind auch die Behörden. Die städtischen Verwaltungen erheben Daten, vergleichen Werte der Zufriedenheit und erstellen Prognosen.

Eine Reihe von künstlerischen Objekten widerspiegelt das Verhalten der Sitznachbarn in der Schule und der Menschen in der U-Bahn, den Wettbewerb um die beeindruckendste Weihnachtsbeleuchtung und den Rasen, der beim Nachbarn immer der grünere zu sein scheint.

Studenten der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften vergleichen die Zimmerpflanzen, die der Nachbar zu giessen hat, in einer witzigen Installation mit dem Charakter der Besitzer.

Das Schülerprojekt

Auch Jugendliche verfügen über einen Erfahrungsschatz mit Nachbarn. Die Klasse des schulischen Brückenangebotes in Pfäffikon (BBZP) widerspiegelt ihre Überlegungen in Audioaufnahmen, Comics, Installationen und auf Papier. Sie werden im Mezzanin des Vögele Zentrums gezeigt.

Interviews, Filme, Video- und Hörstationen sowie interaktive Elemente und Zitate ergänzen die Ausstellung, die von einer Reihe von Veranstaltungen begleitet wird.

Hallo, Nachbar! Der tägliche Tanz um Nähe und Distanz
26. November 2017 – 25. März 2018

 

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