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Der Kirschbaum und seine Gäste

Nachdem der Kirschbaum gefällt worden war, verschwanden auch die Vögel. Die Erinnerung an ihn aber bleibt, denn als Bild war er schon vor der bewussten Wahrnehmung da gewesen.

Oft schon habe ich den Kirschbaum gegenüber meiner Schreibstube besungen. Das ganze Jahr hindurch tummelten sich Vögel in seinem Astwerk. Sie hüpften und flogen, balzten und jubilierten. Die Amsel flötete ihr kunstvollstes Lied in den Morgen- und Abendhimmel hinaus. Jeweils am schönsten, wenn sie in entspannter Haltung und mässiger Erregung auf dem obersten Wipfel der ganzen Vogelwelt mitteilte, dass hier ihr Revier ist. Finken und Meisen schienen fangen zu spielen, verfolgten sich von Ast zu Ast. Balzten die Vögel, verloren sie die Virtuosität in ihren Liedern. Ahnten sie Gefahr, schnarrten sie erregt. Auch die Melodie der Amsel wurde eintöniger. Gelegentlich stellte sich eine Elster ein, setzte sich auf einen Ast, beobachtete und spionierte, was ihre lebhaften Artgenossen trieben. Sie, die intelligenteste unter den Vögeln, war sich wohl bewusst, dass der Baum schon Ende Mai einen reichen Tisch für die Feinschmecker bereithält. Der Bauer erntete die Kirschen nämlich nicht.

Mit Sorge beobachtete ich vor einigen Jahren, dass am Kirschbaum einige Äste dürr wurden. Der vitale Saft war aus ihnen gewichen. Eines Tages, als ich von einer kurzen Reise zurückkehrte, lag der Baum am Boden, der Stamm zersägt und aufgeschichtet, die Äste auf einen Haufen geworfen. Das Bild stimmte mich traurig. Der Stamm war hohl geworden. Es bestand die Gefahr, dass ein stürmischer Wind ihn zu Boden gerissen und Schaden hätte entstehen können, erklärte mir der Bauer. Der Kirschbaum fehlt mir, und vor allem fehlt mir das muntere Treiben in ihm.

Das fröhliche Zwitschern, Piepsen, Trillern und Jubilieren erfreute mich Jahr für Jahr. Ich schaute zu, wie die Vögel von Ast zu Ast hüpften. Sie machten Ausflüge auf meine Terrasse. Einmal wählten Amseln und im nächsten Jahr ein Finkenpaar einen Querbalken des Walmdachs für den Bau ihres Nestes. Das Walmdach ist durchsetzt von einigen Dachfenstern. Dort verfangen sich stets Fliegen, Mücken, Wespen, Hummel und andere Insekten. So hatten die Vögel die Futterquelle in der Nähe. Am liebsten schaute ich den Meisen zu, die schwirrend nach Insekten schnappten. Die Finken, später die Spatzen starteten auf dem Geländer der Terrasse und zischten pfeilschnell und treffsicher auf ein Insekt am Fenster zu. Die Fliegen, einmal im Licht der Dachluken gefangen, waren nicht intelligent genug, um Umwege zu finden und der Falle zu entfliehen. Seit der Baum gefällt worden ist, sind die Vögel verschwunden, sie sind auch nicht mehr zu Gast auf meiner Dachterrasse. Das tut mir weh; ich vermisse sie.

Wenn die Vögel jeweils brüteten, fürchtete ich, sie würden mich als ihren Feind betrachten. Ich zog mich zurück, wenn sie die jungen gefrässigen Schnäbel fütterten. Ich wollte nicht, dass sie sich vor mir fürchteten. Vögel haben kein Vertrauen zu den Menschen. Wie sollten sie wissen, dass sie mir eine grosse Freude bereiteten, wenn sie das Nest bauten und ich zuschauen durfte, wie sie ihre Jungen fütterten, sie dann fliegen lehrten. Aber meine Freude war wohl nicht ihre Freude, vermutete ich, als sie dann ausblieben. Geblieben sind nur die Spatzen, die jeden Abend unter das Dachfenster zielen, um Insekten zu erhaschen. Ich habe den Vögeln halt leider auf meiner Dachterrasse nur die Dachbalken, die Dachfenster und einige Sträucher zu bieten. Der Kirschbaum ist nicht mehr.

Vor einigen Tagen schien meine Einbildungskraft Ausgleich zu schaffen und mich beruhigen zu wollen. Noch im Dämmerschlaf beglückte mich ein wunderbarer Traum. Der Kirschbaum stand in schönster Blüte, im schneeweissen Kleid in der Morgensonne. Er schien mich zu blenden. Er besass eine vitale Kraft, die mich wunderte. Ein Zauber wohnte dieser Erscheinung inne. Der strahlende Kirschbaum lächelte. Ich schwamm in einem überschäumende Gefühl der Heiterkeit. Der Baum näherte sich mir, als wäre er ein Mensch geworden. Er duftete und strahlte. Er bekam ein Gesicht. Als ich es berühren wollte, verschwand es wie einst Daphne, die griechische Nymphe, die von Apollo verfolgt, sich durch den Flussgott Peneios in einen Lorbeerbaum verwandeln liess, und ich erwachte.

Mein blühender Kirschbaum wird Erinnerung bleiben, solange ich lebe. Eigentlich sollte ich mich nicht wundern, dass das Bild des blühenden Baumes immer wieder auftaucht. Er wurde vor der Zeit des kindlichen Bewusstwerdens in meine Seele eingeprägt, in einer Zeit, die ein Kind nur als Gegenwart erlebt. Er bleibt ein Bild wie Mutter, Haus, Flamme, die immer da sind wie das Leben selbst.

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