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Die Zukunft – Traum oder Albtraum

Blicken wir hoffnungsvoll oder von Befürchtungen geplagt in die Zukunft? Unserer Vorstellungskraft sind fast keine Grenzen gesetzt.

Kein Zweifel, Zukunftsängste sind wieder aktueller als in der Mitte des letzten Jahrhunderts, auch wenn kluge Köpfe schon damals auf Umweltverschmutzung, Probleme der Welternährung u.a. hingewiesen hatten. Auf der anderen Seite faszinierten die Fortschritte der technischen Möglichkeiten seit mehr als hundert Jahren, obwohl das Handy oder das Internet der Dinge konkret noch nicht verfügbar waren. Eine Vision erscheint uns grundsätzlich etwas Positives; Federico Fellini wird mit folgender Aussage zitiert: Der einzig wahre Realist ist der Visionär.

Aus Film und Literatur kennen wir die zugleich spannende wie fantastische Welt der Science Fiction. Technikfantasien dienen in erster Linie der Unterhaltung, diese wiederum kann neue Forschungen beflügeln. Von Nanoforschern heisst es, dass sie sich gern von Science Fiction inspirieren lassen. Solches Denken in die Zukunft hinein ist ein Merkmal der Moderne. Vor allem Visionen, wie technische Errungenschaften – Maschinen, Elektrizität beispielsweise – das Leben beeinflussen würden, haben sich erst im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt, heute ist das Feld der visionären Technik unüberschaubar.

Dampfmaschine nach Jacob Leupold von 1720. Erste Darstellung einer Hochdruck-Dampfmaschine aus seinem Buch Theatri Machinarum Hydraulicarum Tomus II  /  commons.wikimedia.org

Ein aktuelles, konträres Beispiel: Ein 39-jähriger Marketingvertreter reist im Jahre 2055 nach HTUA-China. Jede Regung, jeder Atemzug wird von elektronischen Kontrollorganen überwacht, ständig wird er mit sinnlosen, irrelevanten Informationen überflutet. In dieser durchorganisierten Welt lebt man unter einem künstlichen, ewig gleichen blauen Himmel. Dieses Szenario hat der deutsche Schriftsteller Eugen Ruge in «Follower» (erschienen 2016) geschaffen, es geht ihm um eine sarkastische Überspitzung der schon heute sichtbaren Tendenzen in der Welt der Informatik und dem Internet der Dinge. Die Vision gerät hier zu einem abschreckenden Drama, voller ironischer Seitenhiebe auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse.

Künstlerische Darstellung eines Orion-Raumschiffs aus der NASA-Entwurfsphase  / commons.wikimedia.org

Der fliegende Teppich, Aladin und seine Wunderlampe sind altbekannte Märchenstoffe. Sie boten auch Platz für technische Wunschbilder. Märchen sind jedoch zeitlos. Die mit rationalem Denken verbundene Absicht, sich die Zukunft vorzustellen, hat sich erst im Laufe der Geschichte entwickelt. Im Mittelalter waren Visionen im europäischen Raum christlich geprägt und auf ein Weltende ausgerichtet. Die Ereignisse kamen unvermeidlich auf die Menschen zu. Die Zeit verging in Zyklen. Das Wissen über die Zukunft bezog man von Astrologen und Wahrsagern.

Mit dem Zeitalter der Eroberungen, der Renaissance und der Reformation erweiterte sich der Horizont, und die Abhängigkeit von klerikalen Doktrinen nahm ab. Man malte sich fremdartige Länder aus, in die Jonathan Swift seinen Gulliver reisen liess. Im Zeitalter der Aufklärung waren es die Intellektuellen, die Enzyklopädisten in Paris, die ihre Vorstellungen ausweiteten: Zukunft wurde zu einem offenen, gestaltbaren Raum. Ungefähr zeitgleich mit der Entwicklung der modernen Technik, der Dampfmaschine zum Beispiel, entstand geradezu eine Zukunftseuphorie. In den Salons der gebildeten Bürger gehörten Technik und Zukunft zu den meistdiskutierten Themen.

Querprofil und Details der 1799 errichteten Dampfmaschine der Saline Königsborn, kolorierte Tuschzeichnung von Jacob Niebeling, 1822  / commons.wikimedia.org

Dieses Interesse schlug sich in der Literatur nieder, zumal Romane ein wichtiges Mittel waren, aktuelle Themen aufzugreifen. Lesen – allein oder in einem Lesezirkel – war ein bevorzugter Zeitvertreib. Erwähnenswert sind einige Bücher von Jules Verne, «Von der Erde zum Mond» (1865) sei hier genannt. Jules Verne hatte sich von der Pariser Weltausstellung 1855 inspirieren lassen und fügte, was er an Technik gesehen hatte, literarisch zusammen. Um 1900 boomte das Genre des Zukunftsromans.

Es fällt auf, dass sich die Themen der Technikvisionen nicht nennenswert ändern: Im Vordergrund stehen die Auswirkungen der Technik auf Mensch und Medizin, auf die Arbeitswelt, auf Kommunikation und Information, dann auf den Städtebau und die Energieversorgung, schliesslich auch auf die Weltraumfahrt. Besonders beliebt waren visionäre Entwürfe der Informations- und Televisionstechnik. Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert hoffte man, damit Kriege und Konflikte vermeiden zu können.

Exemplarisch sollen hier zwei Bücher erwähnt werden: «Die Welt in 100 Jahren» (1909, hrsg. von Arthur Brehmer). Darin berichten Experten, welche Fortschritte sie erwarten. Im Kapitel «Drahtlos» heisst es, dass jeder sein eigenes Telefon in der Westentasche besitzen werde; Zeitungen würden in gesprochener Form verbreitet; drahtloser Einkauf sei möglich u. v. a. Hier wirken die Erfindungen von Guglielmo Marconi nach, der 1909 den Physik-Nobelpreis erhalten hatte. Eine grossartige, heile Welt – das ist das Fazit dieser Sammlung von Visionen.

Illustration von Friedrich Eduard Bilz, Der Zukunftsstaat (1904). Staatseinrichtung im Jahre 2000.  / commons.wikimedia.org

Den Gegenentwurf finden wir bei E.M. Forster «Die Maschine steht still». Es ist «die früheste, treffende Beschreibung des Internets, des Internets der Dinge» sagt Jaron Lanier dazu. Bei diesem Roman handelt es sich um eine düstere, in der Apokalypse endende Vision – «schwarze Utopie» – im Wohlstand. Alle leben im Untergrund in Einzelzellen. Jeder lebt allein, Kontakte gibt es zahlreiche, aber nur über Bildtelefon. Alles ist technisiert; «die Maschine» kontrolliert alles, denn die Menschen sind zu bequem geworden, sich um die Funktionen dieser lebenswichtigen Steuerung zu kümmern. Deshalb kann niemand eingreifen, als die Maschine kaputtgeht. – «Die Maschine» führt zur Entmündigung und schliesslich zur Ohnmacht der Menschen.

Was bringen solche Visionen, ob verheissungsvoll oder beängstigend, anderes als ein paar spannende Lesestunden? Sie können als Denkanstösse dienen und dazu anregen, darüber zu reflektieren, was für eine Zukunft wir anstreben. Vergangene Visionen sensibilisieren auch für gegenwärtige Fragen.

Dieser Beitrag fusst zu grossen Teilen auf einem Vortrag «Glanz und Schrecken der technisierten Zukunft. Visionen und Dystopien im 20. Jahrhundert», den die Technik-Historikerin Martina Hessler im Rahmen von «Visionen» des Collegium Generale der Universität Bern hielt.

Die erwähnten Bücher:
Eugen Ruge, Follower. Roman. Rowohlt 2016.  ISBN 978-3-498-05805-0
Arthur Brehmer (Hrsg.), Die Welt in 100 Jahren. Olms Presse Neudruck 2012.
ISBN 978-3-487-08531-9
E. M. Forster, Die Maschine steht still. Hoffmann&Campe. 2016.
ISBN 978-3-455-40571-2
Martina Hessler hat zu diesem Thema ein Buch veröffentlicht: Kulturgeschichte der Technik. Campus Verlag 2012  ISBN 978-3-593-39740-5

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