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Kompetenzen im Alter erkennen

15. Zürcher Gerontologietag: Symposium zu „Alltagskompetenz und -expertise im Alter“ und Verleihung des Vontobel-Preises der Universität Zürich für Alter(n)sforschung.

Mareile Flitsch, Martin Meyer, René Künzli, Elsbeth Wandeler (v.l.)

Wie ist es möglich, dass Menschen in einem Alter, das sie ihr bestes nennen, an den Rand der Gesellschaft geschoben und aus dem Arbeitsprozess gedrängt werden? In der Forschung findet heute ein Umdenken statt. Zu lange ist man in der Alterspsychologie den Defiziten nachgegangen und hat die Stärken der älteren Generation kaum beachtet.

Hans Rudolf Schelling

Hans Rudolf Schelling, Geschäftsführer Zentrum für Gerontologie

Das wird sich ändern. Hans Rudolf Schelling bestätigt den Wandel. In der Berliner Altersstudie (BASE II) wurde erforscht, was alte Menschen können, ja, was sie aufgrund ihrer Erfahrungen besonders gut und besser als die jüngere Generation beherrschen. Die Resultate überraschen. Ältere Menschen verfügen über eine hohe Kompetenz in alltäglichen Dingen, durch Intuition, Erfahrung und Wissen, und sie kennen die Traditionen und Überlieferungen. Diese Werte der älteren Menschen braucht unsere Gesellschaft. Voraussetzung ist, dass die Werte anerkannt und die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen werden, damit die ältere Generation diese Fähigkeiten einbringen kann.

Wissen veraltet, Kompetenzen wachsen

Alte Menschen verfügen in allen Kulturen über hohe Kompetenzen, betont Ethnologin Mareile Flitsch. Sie hat in China und in Drittweltländern gelebt und ihre Kultur erforscht: wie Menschen ihre Fähigkeiten erlernen, wie sie sie ausüben und wie sie ihre Erfahrung und ihr Können weitergeben. Mareile Flitsch bewundert das Wissen und die Geschicklichkeit der Naturvölker, die sie bis ins hohe Alter anwenden. In China trainieren alte Menschen Beweglichkeit auf Spiel- und Turnplätzen. Sie wissen, dass sie im hohen Alter auf sich selbst angewiesen sind, weil Nachkommen fehlen oder weit weg wohnen.

Mike Martin und Ruedi Winkler

Mike Martin und Ruedi Winkler (v.l.)

Mike Martin, Direktor des Zentrums üor Gerontologie,  bestätigt, dass die erstaunlichen Kompetenzen, über die Menschen im Alter verfügen, «untererforscht“ sind. Das soll sich ändern. Forschungsziele sind nicht mehr die Defizite, sondern die Alltagsfähigkeiten und wie sie genutzt werden. Neu liegt der Fokus liegt auf dem “Nicht-Unterschied“ zwischen den Generationen. Das Trainings- und Testgelände ist der Alltag. Altern ist ein Prozess, der für jede Person anders verläuft. Wissen kann veralten, der Mensch muss seine Fähigkeiten „zurück verflüssigen“ und seine Kompetenzen in wechselnder Umwelt neu und anders anwenden. Die Universität Zürich hat den Forschungsschwerpunkt „Dynamik gesunden Alterns“ gesetzt. Darin werden die Potenziale der alternden Gesellschaft und das Zusammenwirken aller Fähigkeiten, die zur Kompetenz eines einzelnen Menschen gehören, untersucht.

Menschen nach Kompetenzen und nicht nach Jahrgang einstellen

Ruedi Winkler bedauert, dass die Kompetenzen der alten Menschen nicht anerkannt werden. Erfahrung gehöre zu den Eigenschaften, die den Menschen auch in späteren Lebensjahren eine bezahlte Arbeit ermöglichen sollten.

Die Schweiz leide seit den 80er-Jahren an Fachkräftemangel, vor allem an Handwerkern, die selbständig arbeiten können. Dennoch sind Arbeitnehmer ab 50 Jahren nicht mehr begehrt. Menschen werden heute nach Jahrgang statt nach Kompetenzen rekrutiert.

Unsere Kompetenzen im Inland werden zu wenig genutzt. Vielleicht sei unser Bildungssystem, das auf Abschlüssen und Diplomen beruht, eben doch nicht so gut, wie wir uns rühmen. Alte Diplome sind oft nichts mehr wert. Man müsste Kompetenzen auch ohne Abschluss nennen und anerkennen und bessere Arbeitsbedingungen für Frauen schaffen. Damit würden Probleme auf dem Arbeitsmarkt weitgehend gelöst, sagt Winkler.

Was heisst Ruhestand?

René Künzli

René Künzli, Gründer und Präsident terzStiftung

Wer stehen bleibt, ist tot, sagt René Künzli. Er führt die TerzStiftung. Für die Stiftung arbeiten 330 Experten im Alter von 55 bis 85 Jahren, die durch Erfahrung, berufliche Kompetenz und Expertisen einen Nutzen für die Gesellschaft stiften wollen. Ziel ist, das Altersbild realistischer positiv zu prägen und älteren Menschen zu ermöglichen, so lange wie möglich aktiv und mobil in der Gesellschaft integriert zu bleiben. Damit die Tätigkeit der Senioren in guten Rahmenbedingungen möglich wird, prüfen Experten technische Produkte und Applikationen, AAL-Produkte, die Verkehrssicherheit, und schärfen das Bewusstsein für Schwachstellen.

Mit dem Alter kommen die guten Jahre

Hans Sturm

Hans Sturm, AG Senioren am ZfG

Hans Sturm fordert ein neues Gütesiegel für gerontologische Forschung. Heute werde zu viel Schrott geforscht. Die Beforschten, die Alten, müssen bei den Studien mitmachen. Der demografische Wandel werde nur mit den Potenzialen des Alters erfolgreich gelingen. Die längere Lebensdauer verlange nach einem neuen Drehbuch für Alter und Leben. Mit dem Alter kommen die guten Jahre. Die älteren Menschen tragen Verantwortung, sie sind als Vorbilder notwendig und müssen sich für die Gesellschaft engagieren. Als Kriterien für erfolgreiche Freiwilligenarbeit nennt er den Spass, mit andern etwas zu bewegen und mit sympathischen Menschen zusammenzukommen, Erfolg zu haben und Stolpersteine aus dem Weg zu räumen. Sturm arbeitet mit bei Innovage, im Seniorenrat, im Generationenatelier und setzt sich ein für das Generationenhaus Zürich.

Der politische Mensch geht nicht in Pension

Elsbeth Wandeler engagiert sich als Expertin für die Pflegepolitik. Das Gesundheitswesen ist im Wandel. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind wichtig. Es braucht ein politisches Engagement, damit die Pflegefinanzierung nicht weiter vom solidarischen Grundsatz abrückt. Die Alten dürfen nicht einfach als „Klumpenrisiko“ abgetan werden. Die Ressourcen der Pflegebedürftigen und ihres Umfelds müssen unterstützt und das hohe Potenzial der pflegenden Angehörigen gestärkt werden.

Aus dem Podiumsgespräch

Martin Meyer fordert sein Podium mit angriffigen Fragen, wie, ob es stimme, dass Naturvölker ihre Alten aussetzen. Mareile Flitsch widerspricht energisch. Für diese Vorstellung, die sich hartnäckig halte, habe sie nie irgendwelche Beweise gefunden. Menschen in der Dritten Welt haben gleiche Gefühle wie wir, sie sind uns weit voraus in der Wertschätzung der sozialen Beziehungen und im Respekt vor alten Menschen.

Pausengespräch: Wandeler und Flitsch

Elsbeth Wandeler und Mareile Flitsch (v.l.)

Fotos: Reinhart Feld

Unsere Art, alte Menschen loszuwerden, sei, sie ins Altersheim zu stecken, bemängelt Hans Sturm. Dagegen wehrt sich Elsbeth Wandeler. Die Pflege in der Familie ist nicht immer würdevoller als im Heim. Wichtig sei es, wie die Heime ausgestaltet werden. Elsbeth Wandeler empfiehlt, in den Familien frühzeitig über Wünsche und Möglichkeiten in einem Pflegefall zu sprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Die Schweiz hat die grösste Lebenserwartung der Welt. Ist das Glas heute voll?

Man müsse die Gesellschaft so formen, dass sie für alle Generationen lebenswert sei, erklärt Hans Sturm. Die Senioren sind für die Wirtschaft eine hochinteressante, kaufkräftige Gruppe.

Komplizierter wird es, wenn Menschen ab 55 Arbeitsplätze suchen. Der Arbeitgeberverband hat eine Umfrage zu Leuten über 50 gemacht und will die Ergebnisse nicht publizieren.

Mareile Flitsch erinnert daran, dass generationenübergreifende Arbeitsverhältnisse belastet werden können durch die Tatsache, dass die Eltern/Kinder-Generation im Widerspruch lebt. Generationenüberspringende Beziehungen funktionieren ohne Konkurrenz (wie zwischen Enkeln und Grosseltern).

Die Generationen müssten sich versöhnen, bestätigt Hans Künzli. Ältere sollten neue Aufgaben übernehmen, wie z. B. Beraterfunktionen. Ältere dürfen Jüngere nicht belehren, müssen miteinander auf Augenhöhe bleiben. Und die Jungen sind darauf vorzubereiten, dass sie ihre Karriere nicht als CEO sondern als Berater beendigen werden.

Elsbeth Wandeler informiert über ein Mentoringprojekt: Ältere und jüngere Menschen lernen gegenseitig voneinander. Winkler bestätigt, dass Alte viel anzubieten haben und dass im Freiwilligenbereich einiges passiert. Kompetenzen werden geschätzt, solange sie nichts kosten. Methoden zur Kompetenzerfassung allerdings stecken noch in den Kinderschuhen.

Vontobel-Preis für Alternsforschung 2014

Traditionsgemäss wird am Zürcher Gerontologietag der Vontobel-Preis für Alternsforschung vergeben. Die Laudationes hielten Prof. Dr. Ralph Kunz und Prof. Mr. Mike Martin, Mitglieder der Jury.  Der Preis will den wissenschaftlichen Nachwuchs in der gerontologischen Forschung aus allen Wissensgebieten mit einem Altersbezug fördern und die Öffentlichkeit zu Fragen und Potenzialen des Alterns in der Gesellschaft sensibilisieren. Alle 25 Arbeiten, die eingereicht wurden, waren von hoher Qualität und internationalem Rang. Zur Beurteilung hat die Jury externe, unabhängige Fachgutachter beigezogen. Die Preissumme von 30’000 Franken wurde auf einen ersten und zwei gleichrangige zweite Preise verteilt und verliehen an:

Stephan Böhm und Florian Kunze

1. Preis von 15’000 Franken für die Arbeit „Spotlight on age-diversity climate
The impaxt of age-inclusive HZ practices on firm-level outcomes»

Timo Hinrichs

2. Preis ex aequo von 7’500 Franken für die Arbeit «Inverse effects of midlife occupational and leisure time physical activity on mobility limitation in old age – a 28-year prospective follow-up study»

Irene B. Meier 

2. Preis ex aequo von 7’500 Franken für die Arbeit «Lobar microbleeds are associated with decline in executive functioning in older adults»

Frau Regula Brunner-Vontobel überreichte die Preise. Hans Vontobel hat als Ehrengast am ersten Teil des Anlasses teilgenommen. Die Preisverleihung wurde musikalisch umrahmt vom Saxophonquartett Sax Bravura.

Laudationes 

Mitwirkende am 15. Zürcher Gerontologietag

Zentrum für Gerontologie
Vorlesungsreihe Herbst 2014

Blog zu Gerontologie und Alterspflege
Gemeinsamen Webblog der Pflegezentren der Stadt Zürich und des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich  (neu ab 1.9.2014)

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