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Mit offenen Augen und Ohren

Von den linientreuen chinesischen Reiseleitern ist mehr über System und Gesellschaft zu erfahren, als aus den offiziellen Informationen, welche sie den Reisenden bieten. Serie in 9 Teilen, Folge 3

 

Die Reiseleiterin, die uns während der ganzen Reise (ausser Hongkong) begleitet hat, erwähnte, ihr Mann sei in die kommunistische Partei eingetreten, um im Betrieb, in dem er arbeitet, befördert zu werden. Es ist offensichtlich, dass nur linientreue Begleiter ausländische Touristen durchs Land führen dürfen. Einer der jeweils zusätzlichen lokalen Reiseleiter sagte anlässlich seiner Ausführungen zum Stellenwert der Religionen in China, „Meine Religion ist der Kommunismus.“

Reisegruppen indoktrinieren

Man kann zwar nicht behaupten, Touristen würden von den Reiseleitern indoktriniert, aber politische Statements geschehen auf subtilen Wegen. Ein Beispiel: Am Schlussabend auf dem Yangtze-Schiff präsentierten Angestellte, die tagsüber als Zimmermädchen oder Kellner arbeiten, den Gästen Trachten aus verschiedenen chinesischen Provinzen. Darunter, explizit angekündigt, auch Kostüme aus Tibet und Taiwan. Laut chinesischer Doktrin gehören diese Gebiete zur Volksrepublik, eine Sicht, welche die von China annektierten Tibeter und die abgespalteten Taiwanesen vehement bestreiten. Wie ich feststellte, wurde diese sanfte politische Manipulation von anderen Gruppenteilnehmern nicht registriert – womit sie gelungen wäre, indem wir die völkerrechtswidrige chinesische Hegemonialpolitik gegenüber Tibet und Taiwan anscheinend fraglos akzeptierten.

Auf dem Yangtse

Bei einigen der lokalen Reiseleiter war deutlich spürbar, wie sie auf allfällige Fragen einstudierte Antworten von sich gaben. Fragen, auf die sie keine Antwort geben konnten oder wollten, wurden entweder nicht verstanden oder es gab, wie zum Beispiel zur politisch absolut unverfänglichen Frage nach der Bedeutung eines blinkenden Verkehrszeichen am Rand der Autobahn, einfach eine grotesk absurde Antwort. Keine Antwort geben zu können, wäre ein Gesichtsverlust, der in China noch immer unter allen Umständen zu vermeiden ist.

Superleistungen vorzeigen

Das Reiseprogramm wird von der chinesischen Agentur derart gestaltet, dass uns in erster Linie die Errungenschaften und ausserordentlichen Leistungen Chinas in Vergangenheit und jüngster Gegenwart vorgeführt werden sollen. Das futuristische Olympiastadion in Peking, die Hochhäuser mit ihren ausgefallenen Formen in Shanghai, der dort eben fertiggestellte Bahnhof für die neuen Hochgeschwindigkeitslinien, alles soll uns die Leistungen der Supermacht vor Augen führen. Vieles scheint darauf angelegt, uns konstant den im Westen nicht erreichbaren Perfektionismus und Gigantismus vorzuführen.

Angeblich besonders sehenswert für Touristen

Eine von der Regierung mit einem AAAAA-Rating bewertete Tourismusattraktion muss unbedingt besucht werden, auch wenn sie sich zu unserer Enttäuschung als absolut bombastische Skulptur zwischen künstlichen Bäumen, einem Wasserspiel und einem Dutzend von mit Millionen von Bilder produzierenden LED-Lampen bestückten 30 Meter hohen Säulen herausstellt.

Wohnen im modernen China

Was uns Schweizer in China wohl am meisten beeindruckt, sind die riesigen Baustellen, die sich den Strassen entlang aneinander reihen. Hochhäuser mit 30 bis 50 Stockwerken werden nebeneinander mit einem Abstand von nur wenigen Metern in einem irren Tempo hochgezogen.

Bei uns wird auf den Baustellen in der Regel von Montag bis Freitag je acht Stunden gearbeitet; in China hingegen sind das pro Woche nicht vierzig, sondern 168 Stunden, nämlich sieben Tage 24 Stunden in je drei Schichten. In den Millionenstädten sind mehrere hunderttausend Wohnungen gleichzeitig im Bau, denn der Zuzug an neuen Einwohner beträgt manchmal über eine halbe Million Personen im Jahr.

So wohnen Chinesen in den Megastädten, hier Xi’an

Die Behörden versuchen den Zustrom einzudämmen, indem nur eine Niederlassung erhält, wer in der Lage ist, eine Wohnung zu kaufen. Dafür müssen für eine gewöhnliche Dreizimmerwohnung durchschnittlich 800’000 Yuan (125’600 Franken) bezahlt werden. Wie sich die Leute das mit einem monatlichen Durchschnittslohn von 5’000 bis 6’000 Yuan (rund 800 bis 950 Franken) an einem guten Arbeitsplatz leisten können, bleibt eines der ungelösten Rätsel der Chinareise. Tatsächlich hängt an der Niederlassungsbewilligung fast alles: Ohne sie keine Unfall- und Krankenversicherung, keine Schule für die Kinder, keine Altersversicherung. Von all dem sind die 200 Millionen nicht registrierten Wanderarbeiter ausgeschlossen.

Bauboom als Moloch

Der Bauboom in den chinesischen Städten verschlingt alles:
Landwirtschaftsland: Die Städte fressen sich in die Felder von Bauern hinein, die ihre Lebensgrundlage verlieren. Der Boden gehört in China grundsätzlich dem Staat, der ihn den Bauern zur Bearbeitung überlässt. Das in der Verfassung festgelegte Staatseigentum an Grund und Boden hat seinen Ursprung vermutlich in den schlechten Erfahrungen, die die Bewohner Chinas während Jahrhunderten mit dem feudalen Grossgrundbesitz machten, bei dem die Bauern als Leibeigene gehalten wurden. Seit einigen Jahren gibt es in der chinesischen Verfassung eine Eigentumsgarantie, sie erstreckt sich aber nicht auf Bodenbesitz. Konkret lassen sich neue Bauprojekte auf Staatsland so realisieren, dass ein Bauunternehmer einen hohen Beamten am späteren Gewinn beteiligt und mit erheblichen Summen schmiert, der dann von der Regierung aus dafür sorgt, dass das Projekt genehmigt wird und die Umsiedlung oder eher die Vertreibung der Bauern veranlasst. Die Korruption im Beamtenapparat sei „endemisch“, meint ein chinesischer Soziologe. Sogar das Amt eines Dorfvorstehers kostet im Beamtenapparat die unglaubliche Summe von zirka 300’000 Euro.

Der Bauboom zerstört Bauernland und Geschichte: Shanghai 

Historische Bausubstanz: In China ist das Bewusstsein für den Wert alter Bauten kaum vorhanden – ein eigenartiger Gegensatz zu den Jahrhunderte alten Traditionen, die sonst gepflegt werden. Innerhalb von zwei Jahrzehnten verloren viele Städte ihr unverwechselbares Gesicht vollständig. Alles, was vor 1980 gebaut wurde, kann ohne Rücksicht auf städtebauliche oder soziale Folgen radikal abgerissen werden. In den Innenstädten der Megacities gibt es kaum mehr ein Haus, das älter als vierzig Jahre ist. Die Zerstörung der alten Bausubstanz passiert im eigentümlichen Wahn von Neu-gleich-Besser. Einige wenige der alten Quartiere in Peking, die Hutong, mit ihren einstöckigen Häusern blieben bis jetzt nur stehen, weil sie neben den Palästen als eine weitere Attraktion für die Touristen entdeckt wurden, die etwas Ursprüngliches des alten Pekings sehen wollen. Mit elektrischen Rikschas werden die Langnasen durch das Gewirr der engen Gassen gefahren.

Antik kann auch neu sein

Das vollkommen andere Bewusstsein gegenüber der Geschichte zeigte sich auch, als für unsere Reisegruppe in Shanghai eine Fahrt in die Altstadt geplant war. Dort steht zwar nur ein einziges(!) original altes Haus, der Rest der Altstadt ist eine vor drei Jahren errichtete Shopping-Meile mit Kleider-Boutiquen, McDonald’s, amerikanischen Pizza-Ketten und Souvenirläden. Das Alte besteht aus den an die Fassaden der Betonbauten angeklebten Vordächer im chinesischen Stil. Dank dieser Bau-Kosmetik werden diese Konsumtempel den Touristen nun als „die Altstadt“ verkauft.

Altstadt-Gasse in Shanghai

Ich glaube nicht, dass hier eine absichtliche Täuschung uns gegenüber vorliegt. Es herrscht einfach ein kulturell anderes Verständnis von Original und Imitation. Im Gegensatz zu unseren Werten ist eine Imitation nicht a priori weniger wert als ein Original, im Gegenteil. Dieser unterschiedlichen Interpretation muss man wohl auch die Fälschungen europäischer Edelmarken und schweizerischer Uhren zurechnen. Was ist schon dabei, wenn wir Chinesen das billiger und schneller herstellen können, als ihr abgewirtschafteten Europäer?

Bodenpreise nur für Superreiche

Anders als auf dem Kontinent ist die Wohnsituation von Hongkong geprägt von der topografischen Beschränkung seiner räumlichen Ausdehnung. Die Stadt ist im Fernen Osten ein wichtiger Hafen und hat noch bis 2047 einen Sonderstatus, der Hongkong attraktiv macht. Die in schwindelerregende Höhen gestiegenen Bodenpreise sind wohl auch der Grund dafür, dass die Hochhäuser hier, noch konsequenter als in den Städten des Festlands, mit einem minimalen Abstand voneinander und ohne Freiflächen ringsum hochgezogen werden.

Tag und Nacht lebt Hongkong

Eine Wohnung in einem Hochhaus an guter Lage ist für Normal- sterbliche unerschwinglich. Unser lokaler Reiseführer zeigte uns in einem Schaufenster die Inserate einer Abentur für Immobilien: Umgerechnet 37’500 Franken pro Quadratmeter Wohnfläche, oder mit anderen Worten 3,75 Millionen kostet eine Wohnung von 100 Quadratmetern, wobei die Nettowohnfläche nur gut 80 Quadratmeter gross ist, weil mit der Wohnung auch noch die Flächenanteile von Lift, Treppenhaus und Nebenräumen bezahlt werden müssen. Und für diese 3,75 Millionen Franken gibt es die Wohnung erst im Rohbau. Einzig die Wohnungstüre gehört zum Objekt, alles andere, Bodenbeläge, Küche, sämtliche sanitäre Einrichtungen, Türen und sogar die Fenster, müssen vom Käufer auf seine Kosten eingerichtet werden.

Alle Fotos © Arnold Fröhlich

In der Folge 4 (13.8.2013) geht es ums Essen heute und das Hungern früher

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