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Rückzug in die Einsamkeit

Wer sich bewusst und aus freier Entscheidung in die Einsamkeit zurückzieht, tut dies, um innere Klarheit und Ruhe zu finden.

«Ab auf die einsame Insel», das wünscht sich manch einer, wenn ihm Verpflichtungen und Aufgaben über den Kopf wachsen und Rückzug der einzig mögliche Ausweg scheint. Ist es so einfach? Fallen alle Belastungen und Sorgen ab, sobald wir dem Alltag entfliehen? Auf den ersten Blick schon, mit dem Ziel, sich zu erholen, lassen an einem einsamen Ort physische und mentale Anspannung nach und Körper, Geist und Seele regenerieren sich allmählich.

Es gibt jedoch noch andere Arten von Rückzug, von denen heutzutage als Retreat gesprochen wird und wo es um mehr geht, als nur dem Stress des Alltags zu entgehen.

In einem Volk der amerikanischen Ureinwohner an der Pazifikküste erzählt man sich, dass in vergangenen Zeiten alte Menschen in die Einsamkeit gingen, sobald sie spürten, dass ihr Lebensende nahte. Sie suchten sich einen Baum, kletterten hinauf und warteten dort allein für sich, bis der Tod kam.

Nun sind es nicht nur alte Indianer in früheren Zeiten, die sich in die Einsamkeit zurückzogen; in allen Kulturen gehört der Rückzug aus der Gesellschaft – meistens nur für eine gewisse Zeit – zu den Facetten des Lebens. Vor einigen Jahrzehnten noch war es in Thailand durchaus üblich, dass sich ein junger Mann, bevor er ins Berufsleben, in das Geschäft seines Vaters beispielsweise, eintrat, für einige Monate als Mönch in ein Kloster zurückzog, um dort eine andere, klar strukturierte Form der Gesellschaft zu erfahren.

Ein Rückzug ins Kloster bedeutet nicht in allen Fällen Einsamkeit. Das streng geregelte Klosterleben erlaubt zwar wenig Freiraum und Freizeit, oft wenig oder keine Gelegenheit für Gespräche, aber einsam ist man dort nicht. Wer sich jedoch in ein Retreat begibt, tut dies mit der Absicht, für die Dauer dieses Rückzugs nicht mit anderen zu sprechen, sich schon gar nicht mit den Dingen des alltäglichen Lebens auseinanderzusetzen. Einsamkeit als selbst auferlegte Struktur innerer Askese.

Schon seit Jahrtausenden und in den allermeisten, wenn nicht in allen Kulturen haben sich Einzelne aus ihrem gewohnten Lebenskreis zurückgezogen und längere Zeit, Jahre, ja ihr ganzes Leben in Einsamkeit verbracht. Wir kennen Einsiedler, die auf die Dauer weniger einsam waren, als sie es sich gewünscht hätten, denn die Menschen erfuhren von ihnen, besuchten sie und baten sie um Rat und Hilfe. Was hatten Stille und Abgeschiedenheit bewirkt, dass Einsiedler so verehrt wurden?

Einsiedler oberhalb von Xinluhai in Kham / Osttibet

Auf einer Reise durch Osttibet vor vielen Jahren ist mir ein solcher Einsiedler begegnet. Er lebte damals seit ungefähr zwanzig Jahren in einer Höhle, die er mit Holzbalken und Sackleinen einigermassen gegen die Winterkälte geschützt hatte. Weithin sichtbar hatte er aussen an die Felswand in vielen Farben das in Tibet bekannteste Mantra gemalt: OM MANI PADME HUM. Auch dieser Einsiedler war nicht immer allein, er erhielt Besuch von befreundeten Mönchen, und die vorbeiziehenden Nomaden brachten ihm Lebensmittel, wie es dort üblich ist. Seine unkomplizierte Heiterkeit beeindruckte mich, auch wenn ich sonst nichts mit ihm reden konnte.

Wer sich zu einem spirituellen Retreat allein in die Stille begibt, ist sich bewusst, dass es in der dafür bemessenen Zeit nicht darum geht, Körper und Geist zu entspannen – obwohl dies zunächst der erste Schritt ist. Wichtig ist es, den Tagen eine Struktur zu geben und geistigen, aber auch körperlichen Übungen einen festen Platz einzuräumen. Was den Ungeübten erstaunen mag: Wer in die Stille geht, wird zunächst einmal erfahren, dass in seinem Geist, aber auch im Körper ganz und gar keine Ruhe herrscht. Wenn die Eindrücke von aussen, alle Anregungen und Ablenkungen wegfallen, ist der Geist keineswegs sofort ruhig. Im Gegenteil: Alle Regungen, Gedanken, Gefühle, Erinnerungen tauchen auf. Dem kann niemand entrinnen, der sich in die Retreat-Erfahrung begeben hat. Darin liegt aber auch ein wichtiger Teil des Gewinns, den wir daraus ziehen: Ich erhalte eine unausweichliche Vorführung dessen, was es in mir denkt und fühlt, ich lerne Facetten in mir kennen, die ich im Alltag vor lauter Beschäftigung nicht wahrnehmen konnte. Das ist nicht einfach zu ertragen, denn es erscheinen auch unangenehme Gedanken und Gefühle. Wichtig ist es anzunehmen, dass sie existieren, erst dann gelingt es mir, mich weniger von ihnen vereinnahmen zu lassen – ein langer Prozess, der sich nicht in einem Retreat vollenden lässt. Eine solche Erfahrung stärkt innerlich, auch für die Anforderungen im täglichen Leben. Ein Retreat erfordert Disziplin und die Fähigkeit loszulassen. Wem es gelingt, beides in eine Balance zu bringen, erfährt unerwartete Freiheit und Gelassenheit.

Der amerikanische Naturphilosoph Henri David Thoreau – weder christlicher und andersgläubiger Eremit – schätzte die Einsamkeit in der Natur so sehr, dass er sich in den Wäldern eine Hütte baute und dort zwei Jahre lebte. Die Kraft der Natur und die Weite, die er dort erfuhr, drückte er mit folgenden Worten aus:  «Ein Mensch, der in die Einsamkeit gehen will, muss sich von seiner Wohnstube ebenso weit entfernen wie von der Gesellschaft. Ich bin nicht allein, während ich lese und schreibe, obschon niemand bei mir ist. Aber wenn ein Mensch allein sein will, lass ihn zu den Sternen aufblicken.»

Rund 1,2 Millionen Menschen in der Schweiz sind über 75 Jahre alt. Davon fühlt sich jeder Dritte laut einer Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik häufig oder manchmal einsam. Unter dem Titel «Einsamkeit» veröffentlicht die Seniorweb-Redaktion bis Mitte August eine Serie zur Einsamkeit im Alter mit hilfreichen Hinweisen und Tipps, wie Sie Ihr Beziehungsnetz ausweiten, sich mehr engagieren und wo Sie Hilfe holen können.

Links zu bereits erschienenen Beiträgen:

– Einsam und allein . . . (Fritz Vollenweider)

– Einsamkeit gehört zum Alter (Judith Stamm)

– Macht Facebook einsam? (Josef Ritler)

– Raus aus der Isolation (Bernadette Reichlin)

– Fundstücke zum Thema (Eva Caflisch)

– Nachbarschaftshilfe fürs Wohlbefinden (Susanna Fassbind)

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