StartseiteMagazinKultur"tierisch brut": eine andere Kunst

«tierisch brut»: eine andere Kunst

Sind es Menschen, Tiere oder Traumwesen, die uns anblicken und anrühren? Naive Kunst berührt uns auch durch das Schicksal der Künstler.

Es sind oft seltsame Wesen – Vierbeiner, aber auch Zweibeiner, die das Museum im Lagerhaus in Sankt Gallen zur Zeit zeigt. Zum ersten Mal werden die Bilder der Sammlung Rolf Röthlisberger ausgestellt. Dass dieser Sammler weiss, was er sammelt, merkt man schnell. «Er sammelt sehr konzentriert, sehr persönlich, orientiert sich nicht am Mainstream, denn er lebt anschliessend mit den Werken, die er erwirbt, ganz direkt in seiner Wohnung», sagt Monika Jagfeld, die Leiterin des Museums und Kuratorin dieser Ausstellung.

Johann Hauser (1926-1996) «Negerin» 1991. Bleistift, Farbstift auf Papier 62×44 cm.  © Privatstiftung – Künstler aus Gugging

Wie er dazu kam, Kunst von psychisch kranken oder behinderten Menschen zu sammeln, erzählt Röthlisberger: Schon sein Grossvater habe sich für die Werke solcher Menschen interessiert und ein Bild von Adolf Wölfli besessen, der in der Waldau / Bern lebte und von Walter Morgenthaler gefördert wurde. – Damals eine Aufsehen erregende Tat des Psychiatriearztes, die in der Folge bewirkte, dass auch andere Ärzte wie Leo Navratil in Wien die künstlerischen Fähigkeiten ihrer Patienten unterstützten.

Röthlisbergers Grossvater lebte auf dem Monte Verità bei Ascona nach den Grundsätzen der «Lebensreformer«, wo ihn der Enkel oft und gern besuchte. So sieht sich Röthlisberger in den Fussstapfen seines Grossvaters. Nachdrücklich unterstützt wurde er in seiner Sammelleidenschaft von seiner Frau Ruth Röthlisberger. Zu Tieren fühlt sich Röthlisberger seit seiner Kindheit hingezogen, was sich in seiner Sammlung unschwer erkennen lässt. An berühmten Namen hat er eigentlich kein Interesse, auch wenn seine Sammlung einige Werke inzwischen berühmter naiver Künstler enthält, auch ein Bild des Mexikaners Martín Ramirez. – Es ist Röthlisbergers teuerstes Werk. Insgesamt umfasst seine Sammlung zwischen 600 bis 800 Werken, viele sind in Sammelmappen aufbewahrt. «Es gibt nichts Schöneres, als allein in einer Sammlung zu stehen, denn dann beginnen die Bilder, zu einem zu sprechen.»

Martín Ramirez (1895-1963) «Caballero», um 1953. Kaffeebohnen, Kreide auf Papier, 71×61 cm.  © Sammlung Rolf Röthisberger

Die Sammlung wurde nach und nach durch Künstler erweitert, die Röthlisberger meistens persönlich kennengelernt hatte, zum Beispiel Michel Nedjar. Dessen Werke erschrecken im ersten Augenblick, denn es sind zusammengedrehte, verschnürte Stoffpakete, die wie Gefangene wirken. Röthlisberger erklärt, dass Nedjar als Kind seine Mutter, die Wäscherin war, oft begleitete und sah, wie die Tücher ausgewrungen wurden. Nedjar, Autist in leichter Form, drückt hier aus, wie er sich selbst oft fühlte. Es sind die Figuren selbst, die Angst haben, sie wollen dem Betrachter keine Angst machen.

Der Kontakt zu der Künstlergruppe Gugging / Wien entstand aus dem Wunsch, mit lebenden Künstlern Gespräche zu führen, mit ihnen Karten zu spielen, spazieren zu gehen. «Diese Leute geben einem so viel», sagt Röthlisberger und betont, wie tief es ihn beeindrucke, mit ihnen über ihre eigenen Bilder zu sprechen. Dabei interessiert sich Röthlisberger nicht für die Krankheiten der Künstler, sondern für ihre Biografien.

Oswald Tschirtner (1920-2007) «Elefanten» 1974. Tusche, Goldfarbe auf Papier 21×14,8 cm. © Privatstiftung – Künstler aus Gugging

Oskar Tschirtner zeichnete sehr eigenwillige Figuren, nicht selten nur eine einzige, er scheute sich auch nicht, auf dem Papier viel Leere zu lassen. Als Gegensatz dazu die «Negerin» von Johann Hauser. Eine starke Frau, es könnte die Königin von Saba sein; andere Betrachter haben sie als Ameisenkönigin bezeichnet, ebenso treffend, denn die Frau vermittelt den Eindruck, sie könnte kräftig zubeissen. Gegenüber hat die Kuratorin eine Collage gehängt, ein äusserlich schöner Frauenkopf, aus einer Zeitschrift herausgerissen, leicht zerknittert und verkritzelt. – Hauser, ein lauter, extrovertierter Mensch, und Tschirtner, der nie sprach, bewohnten in Gugging gemeinsam ein Zimmer.

Philipp Saxer, wegen Schizophrenie in der Klinik, versuchte vierzehn Mal, seinem Leben ein Ende zu setzen. 2013 gelang ihm der Suizid. Sein letztes Bild «Abendmahl» zeigt eine sehr eigenwillige Interpretation dieses Themas. Es ist ein Ausdruck seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit, die sich in dem höhnisch lachenden Fisch konzentriert: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.» Aus diesem Ausruf spricht des Künstlers Hoffnungslosigkeit. Mit diesem Bild hat Saxer, der ausgebildeter Graphiker war und sich künstlerisch gewandt ausdrücken konnte, ein «verrücktes» Abendmahl dargestellt.

Philippe Saxer (1965-2013) «Abendmahl» 2007. Ölkreide auf Papier, 60×127 cm.  © Verein Freunde des Philippe Saxer

«Die Giraffe» stellt Röthlisberger als sein Lieblingsbild vor. Der Maler Fritz Koller vergisst während seines Zeichnens, welches Thema er sich am Anfang vorgenommen hatte. Entstanden ist eine Art «Selfie», bei dem der Auslöser etwas zu früh gedrückt worden war.

Fritz Koller (1929-1993) «Giraffe» 1981. Bleistift auf Papier, 40×30 cm.  © Privatstiftung – Künstler aus Gugging

Die Giraffe wirkt überrascht und zugleich verängstigt, sie kann ihre plötzliche Freiheit gar nicht begreifen. Der Germanist Röthlisberger fühlt sich an Rilkes Gedicht erinnert: Der Panther. Der Sammler will das symbolisch verstanden wissen: Lebewesen, die von der Gefangenschaft traumatisiert sind. Dabei kann es sich um Tiere, Menschen oder Flüchtlinge handeln.

Was bedeutet der Titel der Ausstellung? Art brut, naive Kunst, hat sich als Bezeichnung für diese Form der Kunst etabliert. «Tierisch», erklärt Röthlisberger selbst, beziehe sich einerseits darauf, dass ihm selbst Tiere sehr nahestehen. Schmunzelnd fährt er fort: «Ausserdem ist es ein Wort aus der Jugendsprache, ‹tierisch gut›.» – Es ist eine übersichtliche, vielfältige Ausstellung geworden, die sich nicht scheut, mit einem Hitlerbild und Darstellungen aus der Nazizeit heikle Themen zur Diskussion zu stellen.

«tierisch brut» im Museum im Lagerhaus Sankt Gallen ist noch bis 9. Juli 2017 anzuschauen.

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