StartseiteMagazinKulturEine Gewitterwand am Horizont

Eine Gewitterwand am Horizont

Der Roman «Was das Meer ihnen vorschlug» des Kolumbianers Tomás González schildert Familienbeziehungen voller Dramatik und überraschender Wendungen.

Der Plot zieht die Lesende unvermittelt in seinen Bann. Die Geschichte erinnert an die alten griechischen Dramen, auch formal genügt sie diesem Maßstab: Es herrscht Einheit in Ort, Zeit und Handlung. Dass die Handlung an der peruanischen Pazifikküste spielt, hat keine entscheidende Bedeutung – es könnte jedes Ferienresort an einem attraktiven Strand sein. Der Roman beginnt an einem Samstag, 4 Uhr morgens und schreitet Stunde für Stunde – Kapitel um Kapitel – vorwärts bis Sonntag, 6 Uhr. Jedes dieser Kapitel nimmt eine der Hauptpersonen in den Focus, es ist jedoch der Autor, der erzählt, was in ihnen vorgeht.

Die Familie wird von einem jähzornigen, autoritären Vater beherrscht, Besitzer einer Ferienanlage, die er aufgebaut hat. Nun wird sie grösstenteils von seinen beiden Söhnen geführt, Zwillinge, die sich nicht gleichen: Javier, der ältere, hätte viel lieber in der Stadt studiert, er umgibt sich mit vielen Büchern, kommt aber mit der Verwaltung der Anlage gut zurecht. Mario, zwei Stunden jünger als Javier, wäre eigentlich ein Gefühlsmensch, fühlt sich aber von seinem Vater total unterdrückt. «Die Wut auf den Vater hält ihn warm», heisst es auf der ersten Seite. Mario arbeitet leidenschaftlich gern mit (Boots-)Motoren, was im Laufe der Handlung eine grosse Rolle spielen wird. Der Vater – einen Namen hat er nicht – hält seine beiden Söhne für Versager, dabei haben die beiden einen Laden aufgebaut, den sie gemeinsam erfolgreich führen.

Die Mutter – Nora – lebt seit einiger Zeit allein. Der egoistische Vater hat sie verlassen und ist zu seiner jungen Freundin gezogen, mit der er seit kurzem einen Sohn hat. Nora war wohl schon immer eine zerbrechliche Frau – ein altes Muster: Der herrschsüchtige Mann nimmt sich eine Frau, die ihm nicht in die Quere kommen kann. Nora zerbricht an dieser Ehe, sie wird geisteskrank, hat geisterhafte, unsichtbare Begleiter in ihrem Bungalow und erleidet von Zeit zu Zeit einen Zusammenbruch. Dann muss sie mit eisernen Kräften gehalten werden und wird gezwungen, Medikamente zu schlucken. Nora verfügt über grosse Feinfühligkeit, ja fast prophetische Gaben. Dafür liebt Mario sie. Um sie nicht allein zu lassen, würde er nie auf Dauer weggehen.

An diesem Samstagmorgen, 4 Uhr, bereiten Mario und Javier das Boot vor, da ihr Vater mit ihnen fischen gehen will. Die Einheimischen halten das für eine verrückte Idee, denn am Horizont wächst ein gewaltiges Gewitter heran. Niemand sagt etwas, denn alle wissen, dem Vater kann man die einmal gefasste Idee mit keinem Argument ausreden. Der Vater stammte nämlich ursprünglich nicht von der Küste, sondern aus einer Stadt im Hinterland. Erst als er dort nicht mehr genug Verdienstmöglichkeiten sah, entschloss er sich, das Ferienresort am Meer zu übernehmen.

Im Laufe der Erzählung fahren wir Lesenden mit den Dreien aufs Meer. Es werden viele Fische gefangen, zum Teil sagenhaft grosse; im Hintergrund droht ständig das Gewitter, mal nähert es sich, mal bleibt es stehen. Dazwischen erfahren wir die Geschichten einiger Feriengäste, teilweise in der Ich-Form; durch die Facetten ihrer Erlebnisse erhält der Roman noch weitere Farben. Alle, auch die Gäste beschäftigen sich mit dem Wetter, alle fühlen die knisternde Spannung. Alle haben gesehen, dass der Hotelbesitzer mit seinen Söhnen aufs Meer gefahren ist. Unterschwellig erwarten alle ein Unglück, welcher Art auch immer. – Über den Ausgang der Geschichte soll hier Stillschweigen bewahrt werden. Nur so viel: Es ist ein Ende, das Anlass zum Nachdenken gibt.

Tomás González  © Alfaguara / commons.wikimedia.org

Der Autor wurde 1950 in Medellín geboren und zählt zu den wichtigsten Autoren seines Landes. Nach seinem Philosophiestudium in Bogotá begann er in den 1980er Jahren Erzählungen, Romane und Gedichte zu schreiben. Nachdem er sechzehn Jahre als Übersetzer und Journalist in New York gelebt hatte, liess er sich wieder in seiner Heimat nieder.

Dieser Roman zeichnet sich durch seine klare Sprache und Struktur aus, gefüllt mit Zwischentönen, die das Innere der Personen aufscheinen lassen. Der Titel der deutschen Übersetzung «Was das Meer ihnen vorschlug» ist ein Ausspruch von Nora und zielt wohl darauf, was im Laufe der Meeresfahrt geschieht. Im Original heisst das Buch schlicht und bedeutungsvoll «Temporal», also Sturm bzw. Unwetter. Zu vermuten ist, dass auch im Spanischen die Begriffe temporal und (aufbrausendes) Temperament nah beieinander liegen. – Ein Roman, den ich vorbehaltlos empfehlen möchte.

 

Tomás González, Was das Meer ihnen vorschlug.Roman.
Übersetzung: Rainer und Peter Schultze-Kraft
mare Verlag Hamburg. 2016. 160 Seiten
ISBN 978-3-86648-231-9

 

Dieses Buch ist in der Reihe «Der Andere Literaturclub» erschienen, einem Projekt von artlink, Büro für Kulturkooperation, das mit litprom verbunden ist. Ziel von artlink ist es, Kunstformen, Künstler und Künstlerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa bekannt zu machen sowie die Arbeit der in die Schweiz eingewanderten Kulturschaffenden zu unterstützen. Dies als Ausdruck einer der Welt gegenüber offenen Schweiz, die in der interkulturellen Zusammenarbeit eine Chance wahrnimmt, eurozentristische Haltungen zu relativieren, den Respekt vor anderen Formen, Traditionen und Wertesystemen zu fördern und die Welt auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

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