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„He, ich sitze im Rollstuhl, aber ich bin doch nicht blöd“

GESUNDHEIT: Leben mit dem Rollstuhl. Aufgezeigt an Dorothea Walter (74), die in ihrer Jugend an Kinderlaehmung erkrankt ist. Dorothea Walther im Rollstuhl, wie sie sich im staedtischen Verkehr zurecht finden muss und in der Berner Altstadt immer wieder auf unueberwindbare Hindernisse stoesst. © Adrian Moser / Tamedia AG

Dorothea Walther aus Bern ist seit einigen Jahren gehbehindert. Beim Einzug ins unbekannte Rollstuhlland musste sie viel lernen. Und viel hinunterschlucken.

Der Mann im Antiquitätenladen beugt sich zu mir herab und sagt in jener Sprache, die er für Hochdeutsch hält: „Das sind alte Ansichtskarten“, ganz langsam sagt er das, „die sind ganz, ganz alt.“ Himmel, ich sitze im Rollstuhl, aber ich bin doch nicht blöd.

Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer erleben das öfter: Weil unten, bei den Beinen, nichts mehr geht, glauben viele, dass auch oben, im Kopf, nicht mehr alles intakt ist. Altgediente Rolli-Benutzer sind das gewohnt. Für mich, 74, Rollstuhlfahrerin seit einigen Jahren, ist es neu. Und stossend.

In den vergangenen Corona-Monaten musste ich zusätzlich unter einem neuen Phänomen leiden: Nicht nur alt, sondern auch im Rollstuhl. Achtung Hochrisiko. Achtung Distanz. Das hat mir mal böse, mal mitleidige Blicke eingetragen. Auf den Rollstuhl angewiesen bin ich durch eine Folge-Erkrankung der Kinderlähmung. Die Poliomyelitis war bis in die Sechziger des letzten Jahrhunderts in der Schweiz eine gefürchtete Krankheit. In vielen Fällen verursacht sie Spätfolgen, die man als Post-Polio-Syndrom bezeichnet. Wie ich leiden die Betroffenen an zunehmendem irreparablen Muskelschwund.

Viele Rolli-Natives, die in ein solches Gefährt hineingewachsen sind, kutschieren herum wie Slalom-Spezialisten mit Akro-Ambitionen. Ich als Neuling  befuhr eine unbekannte Welt. Ich habe einen Elektro-Rollstuhl. Nicht so einen Traktor, der an einen Sitzrasenmäher erinnert, sondern ein cleveres E-Gerät, nicht viel grösser als ein Handrollstuhl.

Unüberwindbarer Randstein

Als Einsteigerin musste ich viel lernen, zum Beispiel, dass ich Bodenerhöhungen nicht schräg anfahren darf, dass ich Absätze rückwärts bewältigen muss, und dass ein Randstein eine unüberwindbare Barriere ist. Weiter: Wenns steil nach unten geht, vermutet die Automatik Gefahr und stoppt. Ich muss neu starten, und die bockige Elektronik erlaubt zwei weitere Meter. Der Stop-und-Go-Modus alarmiert Passanten. Sie wollen helfen. Die Entschlossensten schieben. Und scheitern.

Womit ich bei den Reaktionen bin. Typ A, ausschliesslich Männer, habe ich eben geschildert: Es ist der Entschlossene, auch bekannt als Frauenbelehrer. Er erklärt mir, wie ich fahren muss, erklärt mir die Elektronik, erklärt mir die Grundsätze der Rolli-Physik. Typ B, meist weiblich, ist die Mitleidende. Kennzeichen: Sie hat den Ach-die-arme-Behinderte-Blick drauf.

Rabatte fürs Huscheli

Jetzt kommt ein Einschub: Die Konsequenz des Huscheli-Modus’sind Rabatte. Günstiger ins Kino, ins Theater, ins Museum, freier Eintritt dahin und dorthin. Das ist auf den ersten Blick reizvoll, auf den zweiten stossend. Denn: Nur weil meine Beine nicht mehr wollen, bin ich noch lange nicht bedürftig. Ende des Einschubs. Halt, da ist noch was: Ich nehme die Preisnachlässe trotzdem mit.

Hindernis Stufen: Dorothea Walther kann die Berner Marktgasse nur ganz oben beim Käfigturm oder ganz unten beim Zytglogge (Bild) überqueren. Bild: Adrian Moser/zvg

Typ C vertritt die Kategorie „Wir haben gar nichts gegen Behinderte, ganz im Gegenteil.“ Diese Leute strahlen mich an, lächeln, auch Wildfremde grüssen aufs allerfreundlichste. Ist ja schön, ist ja gut. Aber warum können sie mich nicht wie einen stinknormalen Menschen behandeln? Bleibt noch Typ D: die Übervorsichtigen. Sie räumen im Restaurant Tische und Stühle fort, als würde hier gleich ein Kleinflugzeug landen. Sie spritzen auf dem Trottoir zur Seite, sie reissen die Kinder weg.

Vorbei an der Warteschlange

Zusammengefasst und tröstlich: Fast, wirklich fast alle sind höflich. Selbst Junge mit Gangsta-Rap-Attitüde und Ganzkörper-Tattoo öffnen artig die Türen und vergessen, auf den Boden zu spucken. Womit wir bei weiteren Behinderten-Boni sind: Ich rolle vorbei an der Warteschlange, zum Beispiel beim Museum. Das leuchtet nicht ganz ein, ich sitze ja, die anderen stehen, ist aber schön. Und weiter: die Zugfahrt. Wenn ein Begleiter, eine Begleiterin dabei ist, brauchen wir zwei bloss ein einziges Billett.

Fährt die kluge Behinderte also im Zuge? Jein. Sie fährt gut im Doppelstöcker und in den meisten Regionalkompositionen. Für die anderen Wagen braucht sie Hilfe. Diese fordert sie über das Handicap-Center der SBB an. Die Mitarbeiterinnen dieses Dienstes sind kompetent, aber oft ganz schön barsch. Möglicherweise sind es auch Behinderte. Rolli-Fahrer sind eine eigene Community. Wer nicht in einem Rollstuhl aufgewachsen ist, gehört nicht dazu und wird wohl als Möchtegern-Rolli-Pilotin belächelt.

Ein Stück vom Mitleidkuchen

Rollstuhl-Pilotinnen, was wäre doch ein schöner Name. Leider hat er sich nicht eingebürgert. Stattdessen machen Correctness-Facharbeitende seltsame Wortverrenkungen. Gehbehindert gilt als falsch. Richtig (und hässlich) ist mobilitätseingeschränkt. Die Steigerung wäre mobilitätsoriginell. Behindert tönt zwar nicht gerade einladend, ist aber bei weitem nicht so hanebüchen wie IV, invalid, unwert.

Rollstuhlfahrerinnen werden zu Kindern. Dann nämlich, wenn sie vor einer Verkaufstheke warten. Die Ware ist auf ihrer Augenhöhe. Ich bin wieder die Siebenjährige, die versucht, einen Blick auf die ausgestellten Herrlichkeiten zu werfen. Behinderte Menschen erleben behinderte Reaktionen. Oft versuchen Ratlose mein Übel kleinzureden. „Aha, du hast einen Unfall gehabt und bist  nur vorübergehend im Rollstuhl.“ Das ärgert – aber nur ein bisschen. Wenn ich könnte, würde ich hingegen jenen an die Gurgel springen, die auch was vom Mitleidkuchen wollen: “Weisst du, mein Knie tut mir ebenfalls weh.“

Ein schmerzendes Knie zwingt niemanden in den  Rollstuhl. Anderen Mitmenschen hingegen würde man ein solches Gefährt dringend empfehlen. Der Seniorin etwa, die mit dem  Rollator kaum vorwärtskommt oder dem Senior, der sich mühsam an einen Stock klammert. Mir schenkt dieses Gefährt Beweglichkeit und Freiheit und erlaubt mir, am Leben teilzunehmen

Der Artikel ist bereits in einem Teil der Tamedia-Publikationen erschienen. Der Autor Peter Steiger ist der Ehepartner von Dorothea Walther.

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4 Kommentare

    • Mir gefällt die klare Ansage ; es wird nicht drumherumgeredet.
      Der Wunsch, für voll genommen zu werden, zu sein wie alle anderen, ganz normal sich im Alltag zu bewegen, ist sonnenklar benannt, das gefällt mir.
      Jedoch: wie sollen wir 2-Beiner immer erkennen, wie die persönliche Geschichte dahinter ist.
      Wahrscheinlich sollten wir Sie erstmal „selber machen lassen“ und es selbst langsam lernen, dass es ganz unterschiedliche Gründe gibt. Es ist aber noch nicht so lange her, da gab es die fantastische Technik noch nicht, die allen Betroffenen Beweglichkeit in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ermöglicht hat. Glück auf , ich hab mich über die selbstbewusste Haltung so gefreut, ist ja auch nicht vom Himmel gefallen!

  1. Ich finde die Haltung und damit auch den Text von der Betroffenen einfach blöd und frage: was haben Sie sonst noch zu mäkern? Bestimmt würden Sie noch weitere doofe Sprüche finden, wenn auf Ihre Situation niemand reagieren würde. Ich bin auch Rollstuhlfahrer und dankbar, dass meine eingeschränkten Möglichkeiten im Alltag durch Verständnis und Entgegenkommen der gesunden Mitmenschen erleichtert wird.

  2. Vielen Dank an O. Staub!!
    Als Nicht -Rollstuhlfahrerin macht es mir Mut, dass mein oft unbeholfener Umgang mit Rollstuhlfahr/innen auch mal angenommen und nicht bloß bewertet wird.

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