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Ein Gedicht von einem Berg

Großbritannien, Schottland, Cairngorm Mountains, bei Glenmore, Wollgras (Eriophorum) vor Sonnenuntergang

Die schottische Autorin Nan Shepherd (1893 – 1981) lebte in der Nähe eines Bergmassivs, das sie in jungen Jahren bei Tag und bei Nacht durchwanderte. Ihr Buch darüber veröffentlichte sie Jahrzehnte später, nun ist “Der lebende Berg” auch auf Deutsch zugänglich.

Bergsteigen und darüber schreiben, das war meist Männersache, ist es heute noch. Da geht es um besondere Routen, steile Felswände, gefährliche Couloirs und schliesslich um die Eroberung des Gipfels. Aber einen Berg kann man erwandern, statt ihn besiegen, selbst dann, wenn auch geklettert werden muss, am Berg kann man meditieren, auch wenn man sich sehr bewusst und aufmerksam zu bewegen hat. Ein Berg, den man erleben und nicht beherrschen will, gibt sein Geheimnis preis. Das ist es, was die Autorin Nan Shepherd in ihrem Buch Der lebende Berg vermittelt.

Auf dem Plateau der Cairngorms

Lange vor unserer Zeit, in der Wandern wieder in Mode ist, hat Shepherd die Cairngorms-Berge im Nordosten Schottlands kreuz und quer, nein, nicht bezwungen, sondern gehend erkundet, war auf allen Gipfeln, jedoch ohne sie zu stürmen, hat die Wasserläufe und Seen durchwatet oder durchschwommen, bei Tag und bei Nacht die Klänge und Gerüche erlebt und hat das Wunder mit all seinen Geheimnissen schreibend ihren Mitmenschen weitergegeben. Der Text war 1944 fertig – für die Schublade – erst 33 Jahre später hat Nan Shepherd The Living Mountain veröffentlicht, seit wenigen Jahren ist Der lebende Berg nun in deutscher Sprache zu entdecken.

Kiefernwäldchen vor einem rötlichen Teppich von Heidekraut

Nan Shepherd ist 1893 nahe bei Aberdeen geboren, dort hat sie studiert und später auch unterrichtet, sie ist weit gereist, schrieb literarische Texte und fand dort 1981 schliesslich auch ihr Grab. Eine unspektakuläre Biographie, mag man denken, und doch zeugen ihre Werke – Romane, Gedichte und vor allem die Beschreibung der Cairngorms – wie gross und weit die Welt ist. Ein Universum allein dank der gewaltigen Sprachbilder, in die Shepherd ihre zwischen exakter Beobachtung und Sinneserfahrung oszillierende Wahrnehmung umsetzt.

Nan Shepherd hat 1915 als eine der ersten Frauen in Aberdeen den Universitätsabschluss gemacht. Ihr Bild ziert die Fünfpfund-Note der Bank of Scotland.

Auf ihren Bergtouren und Wanderungen hat sie die Felsformationen erkundet, das Wetter gespürt, die Pflanzen bestimmt, die Tiere beobachtet, in den einfachen Häusern der Menschen Tee getrunken und daraus ein hochpoetisches Sachbuch gemacht. Das tönt nach Widerspruch, ist es aber nur scheinbar. Denn Shepherds Aussagen sind wohl dokumentiert, halten wissenschaftlich stand und sind dank der sorgsam gewählten Worte in eine wunderbar musikalische Sprache gepackt. Was im englischen Original funktioniert, hat die Schriftstellerin Judith Zander adäquat und sorgfältig ins Deutsche gebracht. Gute Literatur lasse “die gewöhnliche Welt magisch” werden und erleuchten, schrieb Nan Shepherd einer Freundin.

Zwölf Stunden hat der Tag, zwölf die Nacht, zwölf Monate hat das Jahr und in zwölf Kapitel teilte die Schriftstellerin ihren Text ein. Das Buch beginnt mit dem Plateau, also dem Dach des Massivs, auf dem ihr die einzelnen Bergspitzen eher wie Wirbel erscheinen. Es untersucht die Anhöhen und Felsspitzen, die Schluchten und Seen (im Schottischen als Loch bezeichnet), die Bäche und Flüsse, erzählt vom Wetter, von Sonne und Mond, Regen, Eis und Schnee und wendet sich dem zu, was hier wächst und gedeiht, den Pflanzen und Tieren. Im zwölften Teil vollendet sich der Text im Sein: “Ich bin in mir, nicht ausser mir.”

In kürzester Zeit kann Nebel die Landschaft einhüllen.

Diese Erkenntnis schöpft sie aus dem Leben mit dem Berg und dessen Magie. Bei Shepherd ist aber keinerlei Esoterik im Spiel, sie schaut genau hin und schreibt präzis auf, was ihr begegnet und was bei diesen Begegnungen, die sie mit allen fünf Sinnen aufnimmt, mit ihr geschieht. Wissenschaftlicher Hintergrund und metaphysisches Erfahren werden zu einer Einheit, die sich mit einer poetischen Sprache den Lesenden vermittelt.

“Je mehr man über das komplexe Zusammenspiel von Bodenbeschaffenheit, Höhe, Wetter und dem lebenden Gewebe von Pflanzen und Insekten lernt, (…) desto mehr Tiefe gewinnt das Geheimnis. Wissen vertreibt das Mysterium nicht.” Nan Shepherd versucht in ihrem Erwandern der Berge eine sinnliche wie auch sinnhafte Einheit von Mensch und Natur zu beschreiben. Das gelingt ihr vor allem deshalb, weil sie es erlebt hat.

Loch Einich: Noch heute sind die Gewässer so klar wie vor bald 80 Jahren.

Ich trage diesen Text über den lebenden Berg zwar nicht mit mir im Rucksack, obwohl das Taschenbuch ein Leichtgewicht wäre, aber der Nimbus aus Stimmungen und Beobachtungen, Atmosphären und präzisen Beschreibungen begleitet mich auf meinen hochalpinen Gängen seit der Lektüre. Da und dort erinnere ich einen Gedanken Shepherds, der mir meine Bergwelt in neuer Intensität zeigt. Beispielsweise wenn ich über einen Teppich aus Besenheide, auch Bruch genannt, gehe. Nicht die Blütezeit, “die die Berge in Amethyst hüllt,” sei das Schönste, am Heidekraut: “Das Schönste ist einfach, dass es da ist – es unter den Füssen zu spüren.” Oder wenn ich einen Adler oder einen Dohlenschwarm beobachte, weiss ich genau, was Shepherd meint: “Es scheint seltsam, dass blosses Beobachten von Flugbewegungen dem Körper nicht nur stellvertretend Spass bereitet, sondern auch Befreiung verschafft. Der Rhythmus ist so zwingend, dass er ins Blut geht.”

Fast ein Zauberland

Nein, in den Alpen war die Schottin nie, ihre Gebirgswelt lag vor ihrer Haustüre: Ihr lebender Berg sind die Cairngorms. Die sind weit weniger hoch als die paar Dreitausender, die ich – so lange ich kann – immer wieder aufsuchen will, weil mich über zweieinhalbtausend Meter eine besondere Leichtigkeit des Seins ergreift (auch wenn ich aufwärts schwer atmen muss und abwärts die Knie schmerzen). Das Klima, das Shepherd beschreibt, scheint ebenso rauh und wechselhaft zu sein wie das der hiesigen Gebirge.

Der Lebende Berg ist eine Landschaftsstudie, die aus verschiedenen Gründen aussergewöhnlich ist. Zum Beispiel weil sie den Alltag jener, die dort ihre Existenz haben, samt der Jungen, die auswandern müssen, nicht ausklammert, oder weil andere zivilisatorische Eingriffe – beispielsweise die abgestürzten Flieger während des Zweiten Weltkriegs – erwähnt sind. Und faszinierend generell, wie Wahrnehmen, Spiritualität und Wissenschaft zusammengebracht, oder besser: zusammengedacht werden.

Schneehuhn gut getarnt im Sommergewand

Neben aller disziplinierten und tiefgründigen Substanz scheint bei Shepherd auch der Humor immer wieder auf. Dazu ein Zitat aus der kongenialen Einführung zum Lebenden Berg von Robert Macfarlane. Er ist als Autor preisgekrönter Naturbeschreibungen einer von Shepherds Nachkommen im Geiste. Mit ihm staunen wir, was man bei Shepherd auch noch lernen kann, wenn man sich in der Natur viel Zeit nimmt, beispielsweise, dass ein Birkenwäldchen im Sommerregen duftet: “Es ist ein gehaltvoller Geruch, fruchtig wie alter Brandy, und an einem feuchten, warmen Tag kann man davon fast betrunken werden.”

Titelbild: Im Gegenlicht. Foto: © Hubertus Stumpf
Sämtliche Fotos von den Cairngorms: © Hubertus Stumpf
Nan Shepherd: Der lebende Berg. 179 Seiten. Broschur, hg. von Judith Schalansky. Mit einem Vorwort von Robert Macfarlane. Verlag: Matthes & Seitz Berlin. 2020. ISBN: 978-3-95757-901-0

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