StartseiteMagazinGesellschaft«Strafrecht ist ein Instrument zur Durchsetzung der Menschenrechte»

«Strafrecht ist ein Instrument zur Durchsetzung der Menschenrechte»

Der Schweizer Rechtswissenschaftler Stefan Trechsel (82) war Staatsanwalt, Hochschullehrer, Präsident der Europäischen Menschenrechtskommission und Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Wie ein roter Faden zieht sich «das Streben nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit» durch sein Leben.

Stefan Trechsel wurde 1937 in eine Pfarrersfamilie geboren. Vor seinem Vater wirkten bereits vier andere Vorfahren als protestantische Pfarrer. Dies dürfte der Grund sein, weshalb Trechsel bereits in jungen Jahren eine soziale Ader entwickelte. Die obligatorische Schulzeit verbrachte er in Boltigen im Simmental. Das Gymnasium besuchte er in Burgdorf, bevor er 1956 an die Universität Bern wechselte.

Anfänglich liebäugelte er mit dem Studium der Medizin, was er aber verwarf, weil er – nach eigenen Angaben – für Naturwissenschaften «nicht begabt war». Stattdessen interessierte er sich für Sprachen, wählte dann aber doch das Rechtsstudium. 1963, nach Praktika und der Anwaltsprüfung, lockten eine Schauspielschule in Hamburg oder die Law School der Georgetown University in der amerikanischen Hauptstadt. Trechsel entschied sich für das Nachdiplomstudium in den USA (1964/65). «Besser als zweitrangiger Jurist denn als zweitrangiger Schauspieler durchs Leben gehen», meint er mit einem Schmunzeln.

Die Universität Bern: Alma Mater von Stefan Trechsel. Foto: Marcel Photo

Im Anschluss an das Auslandstudium schrieb er seine Doktorarbeit zum Thema «Anstiftung» unter dem Titel «Strafgrund der Teilnahme» (1966). Darin verteidigte er die Praxis des Bundesgerichts. Nach Einreichung der Dissertation wechselte das Bundesgericht unter deutschem Einfluss seine Praxis bezüglich Anstiftung, was Trechsel heute noch bedauert.

Untersuchungsrichter und Staatsanwalt

1966 wirkte er in seiner Heimatstadt Bern während dreier Monate als Untersuchungsrichter. 1971 wurde er Staatsanwalt. Morgens erfüllte er jeweils seine Amtspflichten, am Nachmittag arbeitete er an seiner Habilitation über Menschenrechte, womit er das Missfallen der Staatsanwälte weckte. Sie konnten nicht verstehen, dass der junge Jurist seine amtlichen Aufgaben in einem halben Tag erledigte. Trechsel besass zwar den Abschluss als Fürsprecher, aber als Anwalt wollte er nicht praktizieren, «weil ich es mir nicht zutraute», wie er erzählt.

1972 wurde er Privatdozent. Drei Monate lang vertrat er den obersten Ankläger, den Generalprokurator, eine Zeit, an die er sich gerne erinnert. Als Staatsanwalt bekämpfte er Unrecht und jagte Verbrecher. Gleichzeitig achtete er stets darauf, dass die Vereidigungsrechte respektiert wurden. Wer meint, dass Trechsel als scharfer Ankläger auffiel, der täuscht sich: Nicht selten fielen die Urteile härter aus als seine Strafanträge. Einmal musste er sogar gegen eine vom Gericht gesprochene Entschädigung appellieren, die ihm zu gering erschien. Mit seiner Berufung hatte er Erfolg.

Während seiner Habilitationszeit wuchs das Interesse an der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Trechsel war enttäuscht, dass zu dieser Zeit die meisten Beschwerden abgelehnt wurden. 1974 bewarb er sich um ein Mandat als Mitglied der europäischen Menschenrechtskommission in Strassburg – der Gerichtshof hatte noch kaum mit dem Richten angefangen. Der nachmalige Aussenminister, Bundesrat Pierre Aubert, wollte anfänglich das Amt nicht durch einen Staatsanwalt besetzen. In einem persönlichen Gespräch konnte Trechsel den Magistraten aber umstimmen. Einer Wahl stand nichts mehr im Weg.

Magistrat in Strassburg

1975 begann Trechsel seine Arbeit in Strassburg, hauptberuflich war er Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Hochschule St. Gallen. 1987 – 1994 wirkte er als Vizepräsident, 1995 – 1999 als Präsident der Menschenrechtskommission.

25 Jahre lang Arbeitsort von Stefan Trechsel: Der Sitz der Europäischen Menschenrechtskommission in Strassburg. Foto: Cherry X.

Viele tragische Fälle gingen über seinen Tisch. Grossen Aufwand beanspruchte der Konflikt zwischen Zypern und der Türkei, aber manche Fälle betrafen Familien – es ging mitunter um Probleme, wie sie hier heutzutage bei der KESB auftreten. Trechsels soziale Ader kam ins Spiel. Nachdem er zur Kommission gestossen war, wurden mehr Beschwerden gutgeheissen als in den Jahren zuvor.

Lehrtätigkeit an Schweizer Universitäten

So überrascht es nicht, dass Trechsel ein Vierteljahrhundert oder – wie er sich ausdrückt – «unanständig lang» in Strassburg aktiv blieb. Der Job dort, fand er, war ihm auf den Leib geschnitten. Parallel dazu blieb er Strafrechtslehrer und arbeitete auch wissenschaftlich, namentlich an den Universitäten St.Gallen (1979 -1999) und Zürich (1999 – 2004), einige Male auch im Ausland, z.B. in den USA.

In St.Gallen galt Trechsel als «linksliberaler Denker mit hohem sozialem Gewissen». 1984 sprach er sich gegen eine Auslieferung des Sprayers von Zürich, Harald Nägeli, von Deutschland an die Schweiz aus. Damit zog er den Zorn der Schweizerischen Kriminalistischen Gesellschaft auf sich, die ihm in der Folge die Präsidentschaft verweigerte. Trechsel reagierte gelassen auf die Abstrafung: Er fühle sich seinem Gewissen verpflichtet, das Präsidentenamt sei für ihn nichts Wesentliches gewesen, meint er cool.

Die soziale Ader lebte er auch privat: Zusammen mit seiner Frau nahm er regelmässig von Verfolgung Bedrohte auf. Menschen aus Ungarn, Zaire und Ex-Jugoslawien fanden bei Trechsels eine Herberge.

Als der Jurist am 31. August 2004 von der Uni Zürich emeritiert wurde, behielt sein Leben immer noch etwas Dynamik, so erarbeitete er etwa einen Bericht über angeblich politische Gefangene in Armenien und Azerbaidjan.

Richter am UNO-Tribunal

Ein weiterer beruflicher Höhepunkt kam nach seiner Emeritierung: Im Sommer 2005 wurde er von der UNO-Generalversammlung zum Richter für einen Fall am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) gewählt. In dieser anspruchsvollen Funktion arbeitete er von 2006 – 2013. Das Urteil in seinem Fall umfasst tausende von Seiten. Obwohl es sich um eine politisch-juristisch spannende Tätigkeit handelte, fühlte sich Trechsel in diesem Tribunal zu weit weg von den Menschen.

Der Bernburger (Gesellschaft zu Schuhmachern) war seit 1967 mit der Anwältin Franca J. Kinsbergen verheiratet, die 2017 leider viel zu früh verstarb. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor: Charlotte (1972), Anwältin und KESB-Präsidentin, sowie Anna (1974), Islamwissenschaftlerin und Politologin, beruflich als Redaktorin beim «Echo der Zeit» (Radio SRF). Beide pflegen ein herzliches Verhältnis zu ihrem Vater.

Trechsel wohnt im Berner Breitenrein-Quartier. In seiner sonnigen Wohnung überwacht er Neuauflagen des von ihm begründeten Strafrechtskommentars. In seiner Freizeit hört der ehemalige Cellist klassische Musik, interessiert sich für Literatur sowie Kunst und reist gerne. Er liebt den Süden, vor allem Italien.

Kein Menschenrechtsaktivist

Eine zentrale Frage beschäftigte den Rechtswissenschaftler über all die Jahre seit seiner Habilitation: Stehen Strafrecht und Menschenrechte in einem Widerspruch? Trechsel verneint vehement: «Strafrecht ist ein Instrument zur Durchsetzung der Menschenrechte». Recht und Gerechtigkeit sind für ihn höchste Werte. In der Menschenrechtskommission und als Hochschuldozent verstand er seine Rolle stets als Menschenrechtsjurist und nicht als Menschenrechtsaktivist.

Titelbild: Stefan Trechsel. Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Foto ITCY


Stefan Trechsel publizierte in den Bereichen des Strafrechts und der Europäischen Menschrechtskonvention. Praktiker schätzen seinen Praxiskommentar zum Schweizerischen Strafgesetzbuch, bei dem seit einigen Jahren sein Kollege Mark Pieth als Mitherausgeber wirkt.

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