Im Juni ist ein sehr interessantes Buch mit dem Titel «Die Souveränität der Schweiz in Europa» im Stämpfli-Verlag erschienen. Die Autoren sind einerseits der Historiker André Holenstein und andererseits Thomas Cottier, ein Europa- und Wirtschafts-, aber vor allem auch ein Völkerrechtler.
Vorausschicken möchte ich, dass es in dieser Kolumne nicht um eine Rezension des Buches geht, auch nicht um eine Zusammenfassung. Vielmehr habe ich einfach den Wunsch, ein oder zwei Fragen, die sich die Verfasser stellen, und vor allem die Schlussfolgerung, die die Autoren aus ihren Überlegungen ziehen, den interessierten Leserinnen und Lesern von Seniorweb weiterzugeben. Vielleicht regt es manch einen – Frau oder Mann – an, auch einmal über die Souveränität, von der wir alle irgendwie träumen, nachzudenken.
Was heisst eigentlich «Souveränität»? Diese Frage steht am Anfang. Souveränität bedeutet sicher Selbstbestimmung. Und sie will sagen, dass wir damit unabhängig sind. Dieser Wunsch, so meine ich, steckt ganz fest in uns und lässt uns nicht los. Zum Beispiel, wenn wir über Abstimmungsvorlagen, die unsere Aussenpolitik betreffen, also über Verträge, die wir mit anderen Staaten abschliessen, mit der EU oder damals, als wir 2002 beim Beitritt zur UNO entscheiden mussten. Der Wunsch, unsere Souveränität nicht zu verlieren, gehört quasi zu unserer DNA.
Die Autoren fragen nun, ob dieser Wunsch nach Souveränität, also nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, noch realistisch ist in der heutigen Zeit. Oder ob sich die Welt nicht doch zu sehr verändert hat in den vergangenen, sagen wir, 50 Jahren. Oder müssen wir die Souveränität einfach in einem neuen Sinn verstehen?
Tatsächlich belasten uns heute fast unmenschlich schwierige Aufgaben: Die Klimaveränderung mit all ihren Auswirkungen. Die fast unlösbaren Probleme der Migration. Gerade erst erlebten wir eine Pandemie, deren Ende sich noch nicht abzeichnet. Irgendwie Sorge bereitet uns auch die rasante Fortentwicklung der Digitalisierung, der Cybertechnik und damit unserer Sicherheit. All diese überfordernden Aufkommen warten auf Lösungen. Und wir wissen, dass niemand sie allein lösen kann, auch nicht wir Schweizer in unserem Land.
Wir alle auf dieser Erdkugel sind heute auf Zusammenarbeit, auf Kooperationen angewiesen: international, global, wie man sagt, und, nicht zu vergessen, ganz direkt auch mit unseren Nachbarn um uns herum: der EU.
Das alles ist nicht mehr ganz neu. Sind wir ehrlich, wir erleben es schon eine ganze Weile, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind.
Wem vielleicht nicht sofort ein paar Beispiele einfallen, dem sei in Erinnerung gerufen, dass täglich rund 300 000 für die Schweiz absolut notwendige Grenzgängerinnen und Grenzgänger sehr gewichtige Aufgaben in unserem Land wahrnehmen. Dass 1,4 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger bei uns arbeiten und Steuern bezahlen. Und umgekehrt ungefähr 500’000 Schweizerinnen und Schweizer in einem EU-Land wohnen. Dass unsere Export-Industrie und insbesondere auch die zuliefernden KMU durch die bilateralen Verträge von vereinfachten Handelsbeziehungen profitieren und vor allem so überhaupt einen Absatzmarkt finden und Arbeitsplätze ermöglichen. Und wenn nun die Forschenden zum Beispiel an der ETH leider neuerdings nicht mehr in gleichem Masse wie früher von Horizon, dem grossen europäischen Zusammenarbeitsprojekt im Forschungsbereich, profitieren können, dann spüren wir es empfindlich. Abhängig sind wir auch von weltweiten Organisationen wie einer G20, die unlängst beschlossen hat, eine globale Mindeststeuer einzuführen. Aber auch die Beschlüsse der Klimakonferenz 2015 in Paris geben uns Richtlinien und den Takt vor, wie wir den Klimaveränderungen entgegentreten sollen. Und die EU hat soeben ihr Klimaneutralitäts-Programm präsentiert. Die Schweiz wird auch davon nicht unberührt bleiben. Sie wird sich deshalb in grossen Teilen im Nachvollzug profilieren.
So ist alles miteinander verknüpft. Und wer stark sein will und klug ist, beteiligt sich an all den vielen Aufgaben, die sich stellen. Gefragt sind Zusammenarbeit und die Möglichkeit, mitzubestimmen, eigene Vorschläge und Ideen einbringen zu können und auf keinen Fall abseits zu stehen.
Das ist das Fazit des Buches. Die beiden Autoren plädieren für eine «kooperative Souveränität». Das Buch rüttelt auf und ermuntert dazu, unsere Souveränität in einem modernen Licht zu sehen, in der Chance nämlich, dabei zu sein, die Gelegenheit zu suchen mitzureden, mitzuwirken, mitzubestimmen und immer wieder die entscheidende Zusammenarbeit zu suchen, immer mit dem Ziel, für Frieden und Wohlfahrt unsere Kräfte einzusetzen.
Eine kooperierende Souveränität! Dieses Verständnis erwirkt bei mir das Gefühl von Offenheit und Bescheidenheit. Und es beflügelt mich andererseits mit der Hoffnung, aber auch mit der Zuversicht, dass für die Schweiz so wieder ein Türchen für eine konstitutive, das heisst aufbauende Aufgabe innerhalb von Europa sich öffnet.
Thomas Cottier, André Holenstein: Die Souveränität der Schweiz in Europa – Mythen, Realitäten, Wandel. Stämpfli Verlag AG, ISBN 978-3-7272-0766-2
Ein sehr guter auf- und erklärender Artikel. Folgen des Abseitsstehends werden beleuchtet. Und unverkennbar wird, dass ein souveränes Mitwirken uns letztlich nur nützen kann.
Vielen Dank, lieber Herr Wenger, für Ihre freundlichen Zeilen, die mich gefreut haben.
Mit herzlichen Grüssen
Ihre
Monika Weber
Herzlichen Dank für diese klaren und klugen Worte zur Souveränität der Schweiz!