Negative Schlagzeilen über die Politik in der Schweiz sind leider «in» geworden. Sie sollen polarisieren. Wir haben uns daran gewöhnt. Aber sind sie überhaupt immer berechtigt? Kaum. Und das tut mir richtig weh, denn damit leidet das Image unserer demokratischen Institutionen. Vielleicht sind die reisserischen Titel jedes Mal nur Tropfen, aber sie höhlen den Stein. Das führt zu Unmut. Und die Chance wird verspielt, einer kommenden Generation mit sachlichen Informationen die nötige Zuversicht zu geben, sich selber eine Meinung zu bilden.
Ich will hier, im Gegensatz zu diesem Trend, ein erfreuliches Erlebnis schildern.
Ich hatte vor kurzer Zeit einmal mehr die Gelegenheit, einer jungen Frau so quasi als Mentorin Red’ und Antwort zu stehen. Sie interessiert sich für die Politik und möchte sich vielleicht später für ein öffentliches Amt zur Verfügung stellen. Einer Vertreterin der jungen Generation etwas mitgeben dürfen – welch eine Chance!
Natürlich habe ich ihr zuerst vor allem zugehört, dann aber auch – einfach aus meiner Sicht – Sinn und Zweck des öffentlichen Handelns dargelegt, Erfahrungen geschildert; ich habe versucht, die Freude an der Verantwortung, die man hat, zu vermitteln und das Glück zu beschreiben, wenn man das Vertrauen des Volkes bei einer Wahl zu spüren bekommt.
Wir diskutierten über das, was Politik eigentlich bedeutet und stellten fest, dass die Anforderungen, die ein Politiker oder eine Politikerin an sich selbst stellen muss, sehr hoch sind: Verantwortung, Klugheit, Mut, Integrität sind gefragt und ein breites Wissen wird vorausgesetzt.
Wir sprachen über den Politikbegriff von Max Weber*, der die Bedeutung der Verantwortung des Politikers betont und sich gegen eine rein idealistische Gesinnungsethik wehrt. Aristoteles wiederum spricht von der Klugheit, die das politische Handeln prägen sollte, d.h. dass der politisch Verantwortliche abwägen, diskutieren, auch zuhören sollte, bevor er oder sie entscheidet. Und auch Hannah Arendts Gedanken beschäftigten uns. Sie befürchtete schon in den 60er-Jahren, dass in der Zukunft die Tatsachenwahrheit in der Politik mehr und mehr gefährdet sei, dass der notwendige Diskurs seinen Wert verliere. Sind wir mit den stark frequentierten sozialen Medien nicht bereits in dieses Fahrwasser geraten?
Es beschäftigte uns auch das Thema Macht: Gibt es ein Leben ohne Macht? Um es gerade vorweg zu nehmen: Nein, das gibt es nicht. Da waren wir uns einig. Denn auch die sanfteste Erscheinung übt auf ihre Art Macht aus, in dem sie uns beeinflusst. Macht gehört also zu unserem Leben; sie gehört zur Natur; und sie gehört auch zur Politik. Wenn man in den Räten versucht, die anderen von einer Idee zu überzeugen, dann benötigt man Macht. Und Macht erhält man durch gutes Argumentieren, durch ein Amt, in das man gewählt worden ist, aber auch und vor allem durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Kommission, die entschieden hat, oder einer Fraktion, die einen unterstützt. Allein kann man kaum Macht ausüben.
Unterscheiden müssen wir zwischen Macht und Gewalt. Gewalt ist unbestritten negativ, hat mit Unterdrückung eines anderen zu tun und ist deshalb abzulehnen. Macht ist in einer Demokratie wie der unsrigen immer geteilt und bedeutet, dass man sich berät in einem Gremium und dann eine Entscheidung sucht.
Und zu einem dritten Thema tauschten wir unsere Gedanken aus: zu den vielen Volksinitiativen, in denen zum Teil viel Idealismus steckt. Anbetracht der grossen weltweiten Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind sie Rufer aus der Not. Sie zeigen oft in die richtige Richtung, aber sie versprechen vielleicht zu viel, sind zu radikal formuliert oder gehen zu sehr ins Detail, was man der Gesetzgebung überlassen sollte. Wie kommt das?
Der Mensch möchte immer das Beste, das Schönste, das Perfekte. Er verlangt immer wieder absolute Werte. Doch das menschliche Leben bewegt sich immer in Grenzen, steckt also immer im Relativen**. Wir alle wissen, dass wir eines Tages sterben werden. Ein unendliches Leben wäre für uns unerträglich. Denn erst die Grenzen kreieren das Gefühl von Sinn in uns, weil wir in der beschränkten Zeit, die wir haben, versuchen können, etwas zu erreichen, weil wir wachsen und uns entwickeln können, weil wir das nie vollkommene Leben verbessern wollen. Doch, wir träumen immer von etwas Absolutem, von etwas Vollkommenem, das wir zwar nie erreichen können. Das ist das Paradoxe in uns.
Daraus folgt, dass wir immer mit Kompromissen vorliebnehmen müssen. Dies schon deshalb, weil neben jedem von uns in der Schweiz noch 8 Millionen weitere Menschen mit Wünschen leben, die genauso legitim sind wie der von uns als einzigartig empfundene Traum.
In der Politik soll man deshalb nie vergessen, dass wir irgendwie wundersame Wesen sind, dass wir beides haben: Gefühle und Verstand. Das ruft dazu auf, geduldig zu sein und den Sinn von Kompromissen zu erkennen und nicht aufzuhören, die Dinge zu erklären.
So ungefähr verlief unser angeregtes Gespräch. Es war hoch interessant und vor allem erfrischend für mich. Und ich glaube, es war auch für mein Vis-à-vis ein Aufsteller – cool, meinte sie! Erfahrungen weitergeben dürfen, ist auf jeden Fall immer eine Chance, für beide Seiten.
*Max Weber, Soziologe, 1864-1920
**Jeanne Hersch, Philosophin, 1910-2000