StartseiteMagazinKulturTemporeich, schrill und überdreht

Temporeich, schrill und überdreht

Mit dem Stück «Die Affäre Rue de Lourcine» von Eugène Labiche spielt das Theater an der Effingerstrasse einen französischen Komödienklassiker aus dem 19. Jahrhundert. Regisseurin Susi Weber karikiert, provoziert und überzeichnet das Geschehen mit Absicht.

Eugène Marin Labiche (1815-1888) zählt zu den grossen französischen Komödiendichtern. Sein Werk umfasst 175 Stücke, von denen «Das Sparschwein» und «Ein Florentinerhut» zu den bekanntesten Titeln gehören. Das Stück wurde 1857 in Paris uraufgeführt. Auf deutschsprachigen Bühnen gerne gespielt wird die «Die Affäre der Rue de Lourcine». Die in Bern gezeigte Fassung stammt von Elfriede Jelinek.

Worum geht es? Nach einer heftig durchzechten Nacht anlässlich eines Ehemaligentreffens seines Jugendinternats erwacht der rechtschaffene und wohlhabende Bürger Lenglumé (David Fuchs) am folgenden Morgen mit einem Kater und ohne jegliche Erinnerung an die Geschehnisse der Nacht. Zu seiner grossen Überraschung schnarcht neben ihm im Bett ein Mann, den er als seinen Schulkameraden Mistingue (Christoph Griesser) identifiziert.

Die degenerierte Adelsfamilie gerät in Aufregung, wenn die Erinnerung wegbleibt.

Lenglumés Gattin Norine (Lisa Hörnagel) studiert beim gemeinsamen Frühstück die Zeitung und stösst auf einen Artikel, der von einem Mord an einer jungen Kohlenschlepperin in der vergangenen Nacht in der «Rue de Lourcine» berichtet. Neben der Toten sei ein grüner Regenschirm mit Affenkopf gefunden worden, wird berichtet. Anhand einer Reihe von Indizien kommen die beiden Männer zu dem Schluss, dass sie den grausamen Mord im Rausch begangen haben müssen. Denn Lenglumé vermisst einen grünen Regenschirm mit Affenkopf, und in ihren Taschen stossen die beiden Männer auf kleine Kohlestücke.

Die Hausangestellte Justine spiegelt den Herrschaften deren fehlende Moral.

Panik bricht aus. Die Verdächtigen versuchen enerviert, ihre kohlschwarzen Hände reinzu­waschen und allfällige Belastungszeugen aus dem Weg zu räumen, um ihre weissen Westen zu bewahren. Die quirlige Hausangestellte Justine (Gulshan Sheikh) und der Besitzer des Schirms, Vetter Potard (Tobias Krüger) dramatisieren wirkungsvoll mit. Ein Mord im Alkoholaffekt, aber ohne Erinnerung? Schockiert entdecken Lenglumé und Mistingue das Böse in sich. Doch anstatt sich um das Schicksal des Opfers zu kümmern, sorgen sie sich ausschliesslich um ihren eigenen Ruf. Nach siebzig Minuten hektischem Spiel löst sich das Drama auf: Die beiden Herren sind unschuldig, denn der Mordverdacht beruht auf einem zeitlichen Irrtum. Es folgt ein gesungener Epilog des Ensembles über die Moral der Geschichte.

Was uns der Autor damit sagen will

Mit seinem Albtraumschwank führt uns Eugène Labiche spielerisch schmutzige Wahrheiten vor Augen, die sich hinter einer kleinbürgerlichen, sauberen Kulisse auftun können. Jede und jeder kann eines Verbrechens verdächtigt werden, wenn er oder sie die Norm verlässt. Auch Menschen der sogenannt «guten Gesellschaft» können die Kontrolle über sich und die Erinnerung verlieren.  Das Stück macht auch deutlich, dass soziale Degeneration, Alkoholmissbrauch und unanständiges Benehmen in allen Gesellschaftsschichten vorkommt. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt: Nach einer grossen Aufregung entpuppt sich eine Krise zuweilen als simples Missverständnis.

Nahe an den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts

Regisseurin Susi Weber hat das Stück nicht an die Moderne angelehnt, sondern traditionell im Stil des 19. Jahrhunderts original inszeniert. Das ist auch gut so. Labiche setzt sich in seinem Stück nämlich mit den Dogmen der französischen Bevölkerung seiner Zeit auseinander. Hierbei bedient er sich der typischen Bilder des Spiessbürgertums. Er wirft einen Blick hinter die Fassade der ordentlichen Bürger, denen es weniger um das Verbrechen, sondern mehr um ihr eigenes Ansehen geht. Ausserdem unterstreicht der Autor die Wichtigkeit des Erinnerns. Letztendlich basieren all unsere Entscheidungen auf unseren Erfahrungen und Erlebnissen. Unter Alkoholeinfluss kann jede und jeder über Nacht als Mörderin oder Mörder verdächtigt werden.

Bizarr atemloses Spiel: Kritik am französischen Spiessbürgertum des 19. Jahrhunderts.

Wohltuend traditionell kommt auch die Ausstattung daher: Bühnenbild und Kostüme (Isabel Graf) spielen subtil auf das 19. Jahrhundert an. Das Farb­konzept ist auf Schwarz, Weiss und Gelb reduziert. Geboren ist das Konzept aus der Abstraktion eines «historisch-adeligen» Stoffes. Eine Vielzahl von Kronleuchtern, die auf unterschiedlichen Höhen hängen, nehmen die Bühne ein. Als adeliges Symbol springt die Biene, das Wappentier des napoleonischen Frankreichs, ins Auge. Die Spielenden agieren temporeich, laut, leidenschaftlich, witzig, bizarr. Man spürt die Verzweiflung, die Ohnmacht der beiden Verdächtigten, den Hohn und Spott der Ehefrau und der Hausangestellten. Für Unterhaltung ist bis zum Schluss gesorgt.

Extreme irritieren, sind aber gewollt

Bleibt die Frage nach der Überzeichnung. Das Spiel wird bis in die Extreme dramatisiert und bis an die Grenze des Komödiantischen karikiert. Der eine oder andere Besuchende mag sich an der krassen Überdrehung der Inszenierung stören. An der Première waren im Foyer einige solche Stimmen zu hören. Doch die Überzeichnung ist Absicht der Regisseurin. In einem Interview im Programmheft begründet Susi Weber dies so: «Auch im positiven Sinn karikieren oder eben zur Kenntlichkeit entstellen: Das heisst, Figuren so zu überzeichnen, so gross zu machen, dass sie dadurch wieder auf ihren Kern reduziert sind. Man darf bei dieser Komödie vieles tun, was dem gebotenen Realismus widerspricht.»

Regisseurin Susi Weber: «Im positiven Sinn karikieren oder eben zur Kenntlichkeit entstellen»

Speziell an der Inszenierung ist die extra komponierte Musik (Georg Brenner). In den musikalischen Einlagen treten die Spielenden im Lauf des Abends mehrfach aus ihrer Rolle heraus, wenden sich an das Publikum und geben einen Kommentar zum Besten. Unweigerlich fühlt man sich an die Moritaten in Berthold Brechts Dreigroschenoper erinnert, einfach ohne Drehorgel. Wer noch keine Silvesterpläne hat, dem sei die Komödie im Theater an der Effingerstrasse empfohlen. Am 31.12.2021 stehen zwei Vorstellungen auf dem Programm.

Dernière: 7. 1. 2022

Theater an der Effingerstrasse   

Titelbild:  Schockiert entdecken Lenglumé und Mistingue das Böse in sich. Alle Fotos © Severin Nowacki

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2 Kommentare

  1. Nachdem wir uns auf das auf die Vorführung des Silvesterstückes im Theater an der Effingerstrasse gefreut hatten, wurden wir leider sehr enttäuscht. Die übertriebene und schrille Inszenierung des Stückes fanden wir weder lustig noch unterhaltsam und veranlasste uns, sowie viele andere Besucher/innen das Theater in der Pause zu verlassen. Wir sind seit vielen Jahren Inhaber des Theaterabonnements und schätzen die meisten Produktionen. Was jedoch mit dem diesjährigen Silvesterstück geboten wurde ist unseres Erachtens unter dem üblichen Theaterniveau.
    R.+ E. Burkhart

  2. Wir – langjährige Abonnementsinhaberinnen – waren heute auch im Theater an der Effingerstrasse, sind aber bereits vor der Pause gegangen. Es war unterirdisch und hat schon fast körperlich wehgetan. Schade, sehr schade !

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