Leo Schelbert wanderte in jungen Jahren in die USA aus, promovierte und dozierte während 22 Jahren an der Universität Illinois in Chicago zum Spezialgebiet «Einwanderung in die USA». Das vor kurzem in Kaltbrunn (SG) eröffnete Auswanderer-Museum hat er massgeblich mitgeprägt. Ende März 2022 ist Schelbert, 93jährig, in den USA verstorben.
Hunderttausende von Schweizerinnen und Schweizer sind im 18. und 19. Jahrhundert nach Nordamerika ausgewandert. Das sagenhafte Land, wo 1848 in «Neu Helvetien» auf dem Terrain des Auswanderers Johann August Sutter der kalifornische Goldrausch ausgebrochen war, wurde für viele Familien zur neuen Heimat. Noch heute leben in Kalifornien sowie im Mittleren Westen Hunderttausende von Amerikanerinnen und Amerikanern mit Schweizer Wurzeln. Rund 200 000 in den USA niedergelassene Menschen besitzen den Schweizer Pass.
Leo Schelbert hat die verschiedenen Migrationsbewegungen, die Integration der Eidgenossen im neuen Land und die Wechselwirkung mit der alten Heimat zum Gegenstand seiner Forschungstätigkeit gemacht. Die Schwyzer Journalistin Susann Bosshard-Kälin und der Luzerner Historiker Manuel Menrath haben Schelbert als Forschende über Jahrzehnte begleitet. Sie erinnern sich an eine aussergewöhnliche Persönlichkeit:
«1929 als viertes von elf Kindern im sankt-gallischen Kaltbrunn geboren, war Leo Schelbert erst Gymnasiallehrer, bevor er an der Columbia Universität in New York amerikanische Geschichte mit Schwerpunkt Einwanderung studierte. Nach seiner Promotion,1966, lehrte er von 1963 bis 1969 an der Rutgers University in Newark, New Jersey, und nach zwei Forschungsjahren in der Schweiz von 1971 bis 2003 an der Universität von Illinois in Chicago.
Liess sich nicht einbürgern
Als ausgewiesener Erforscher der schweizerischen Auswanderungsgeschichte befasste sich Leo Schelbert mit der weltweiten Präsenz der Schweizerinnen und Schweizer. Die offizielle Schweiz sollte die Fünfte Schweiz mit ihren über 776’000 Mitgliedern bewusst als eine Art 27. Kanton ansehen. Er hat mehr als die Hälfte seines Lebens in den USA gelehrt und gelebt und sich trotzdem nicht einbürgern lassen. Er verstand sich nicht als Auslandschweizer, sondern als ein im Ausland tätiger Schweizer.
Leo Schelbert (1929-2022).
Wie wohl kein anderer Historiker hat er den weiten Bereich der Schweizer Auswanderungs-Geschichte zu seiner Lebens- und Forschungsaufgabe gemacht und sie in deutscher und englischer Sprache so formuliert, dass sie über den Kreis der Experten hinaus verstanden wird. Und er ging in seiner Forschungsarbeit zeitlebens einen besonderen Weg. Die persönlichen Zeugnisse, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte der Auswandernden waren bei ihm immer zentral. Er schloss vom Individuellen und Besonderen auf das Allgemeine, statt von einer Theorie auszugehen, die es zu erhärten galt.
Leo Schelbert war ein innovativer Historiker, der seinen Blick stets auf globale Phänomene richtete und multiperspektivisch arbeitete. Hinsichtlich der seit gut zehn Jahren etablierten postkolonialen Forschung in der Schweiz müssen seine Werke als Pionierleistungen betrachtet werden. Schon vor einem halben Jahrhundert hat er entsprechende Ansätze verfolgt. So hat er herausgearbeitet, dass Menschen aus der Schweiz in der Mission, im Handel oder im Soldwesen in vielen Teilen der Welt in koloniale Systeme verstrickt waren und davon profitiert haben. Ferner war es ihm stets ein Anliegen, Schicksal und Weltanschauungen indigener Nationen miteinzubeziehen und ihre historischen Erfahrungen ernst zu nehmen.
Tafel im Auswanderermuseum in Kaltbrunn.
Dem Aufbau der Neuen Welt in den USA durch Siedler aus Europa setzte er in seinen Publikationen die Zerstörung der indianischen Welten entgegen, die in der erinnerungskulturellen Historiographie der Dominanzgesellschaft oft ausgeblendet wurde. Leo Schelbert engagierte sich während vieler Jahre als Präsident der Swiss American Historical Society (SAHS), als Redaktor der SAHS-Revue sowie Herausgeber der umfangreichen SAHS-Bücherreihe und hat so massgeblich zum gegenseitigen Verständnis zwischen zwei verschiedenen und doch verwandten Kulturen beigetragen. 2006 wurde er von der FDP-Schweiz zum „Auslandschweizer des Jahres“ gewählt und 2015 haben ihn seine ehemaligen Studierenden am Geschichtsdepartment der Universität von Illinois mit einer Festschrift geehrt.
Leo Schelbert war Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher wie „Alles ist ganz anders hier – Schweizer Auswanderungsberichte des 18. und 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten“, „Von der Schweiz anderswo – Historische Skizze der globalen Präsenz einer Nation“, „Historical Dictionary of Switzerland“ sowie Co-Autor von „Nach Amerika – Lebensberichte von Schweizer Auswanderern“. Er hinterlässt seine Ehefrau und vier Kinder mit Familien in den USA und seinen jüngsten Bruder mit Ehefrau in der Schweiz.» Nachruf: Susann Bosshard-Kälin und Manuel Menrath
Titelbild: Leo Schelbert bei Filmaufnahmen mit der Journalistin Susann Bosshard-Kälin (rechts). Alle Fotos Einsiedeln-Anderswo
s.a. Ruth Vuilleumier: Abschied für immer