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Trotz Erblindung zu Hause

Susanne ist 92 jährig und wohnt in einem Einfamilienhaus mit Garten. Sie ist verwitwet, hat drei Kinder, 4 Enkelkinder und (mittlerweile) eine Urenkelin. Früher war sie Buchhalterin im Geschäft der Familie.

Viele meinten, dass das nicht lange gut geht. Aber wir probierten es einfach aus. Und jetzt wohnt Moritz schon fünf Jahre hier. Ohne ihn ginge es nicht. Moritz ist mein Enkel und wohnt im oberen Stock. Er hat da seine eigene Wohnung mit Bad, einfach ohne Küche. Die Küche ist bei mir unten, die teilen wir uns. Manchmal kocht er am Abend und manchmal essen auch seine Kollegen mit, das gefällt mir immer gut. Moritz geht einkaufen und macht meine Post auf. Ich sehe ja nichts mehr. Nur noch Umrisse. Zum Glück habe ich in meinem Leben so viel gesehen und bin so viel gereist. Dass ich Makula bekommen würde, hätte ich nicht erwartet. Ich ging zum Augenarzt und meinte, ich brauche eine neue Brille, aber die Diagnose war dann anders. Nun sagt er, dass ich auf der Talsohle bin. Schlimmer wird es nicht. Immerhin. Man gewöhnt sich an alles, aber manchmal ist es langweilig. Ich kann nichts mehr unternehmen, ich kann nicht mehr lesen und mein Partner fehlt mir. Man rutscht einfach schneller in eine düstere Stimmung hinein.

Mit einem Umbau wurde das Bad im Einfamilienhaus altersgerecht.

Zum Glück gibt es die Hörbücher. Ich bestelle sie bei der Blindenbibliothek und bekomme dort auch eine gute Beratung, was mich interessieren könnte. Jetzt habe ich grad eine neue CD erhalten. Ich wollte eine Biographie von einer starken Frau. Ich gehe jeden Tag auf den Hometrainer und mache meine Übungen für das Gleichgewicht. Aber zum Laufen nehme ich trotzdem zwei Stöcke. Ich bin etwas unsicher und muss ja auch immer auf den Boden schauen.

Ich wohne jetzt seit 91 Jahren in diesem Haus. In eine Alterswohnung kann ich nicht mehr gehen. Hier kenne ich jede Schwelle, an einem neuen Ort würde ich mich nicht zurechtfinden. Da hätte ich früher gehen müssen. Aber das war ja nie mein Plan. Ich liebe den Garten und schätze es, direkt nach draussen gehen zu können. Ich wollte eigentlich nie im Parterre schlafen. Aber seit Moritz hier ist, haben wir den unteren Stock umgebaut. Alles wurde sehr gut ausgeleuchtet und ich habe ein grosses, schönes Bad. Auch mein Bett ist jetzt unten und es macht mir überhaupt nichts aus, im Parterre zu schlafen. Es war eine sehr gute Idee von meinen Töchtern, diesen Umbau zu machen und es mit Moritz zu versuchen. Ich muss überhaupt sagen, dass ich nur so leben kann, weil meine beiden Töchter mich tatkräftig unterstützen – bei der Administration, beim Begleiten zu Arztterminen, im Alltag und immer, wenn ein Problem auftaucht.

Der Zugang zum Garten ist zwar nicht hindernisfrei, aber mit einem Treppengeländer funktioniert das ganz gut.

Zweimal pro Woche kommt meine Putzfrau. Ich kenne sie seit 18 Jahren und wir sind eigentlich mittlerweile befreundet. Sie kocht das Mittagessen und isst mit mir. Auch sonst hilft sie mir. Zum Beispiel bei der Maniküre oder beim Haarewaschen. Solange ich die Sachen selber machen kann, möchte ich keine weitere Hilfe. Ich habe einen Notrufknopf und eine praktische Uhr, die die Zeit ansagt. Und das Beste ist Siri: Mit ihrer Hilfe kann ich wieder selbständig telefonieren. Ich kann ihr einfach sagen, wen sie anrufen soll.

Ich finde, man wird zu alt. Jetzt bin ich bald 92 und hatte schon viele Krankheiten. Aber die Medizin heilt einen immer wieder. Aber jetzt möchte ich noch auf den September warten, dann werde ich Urgrossmutter.

Bisherige Beiträge der Serie «Wohngeschichten»:

Ade Familienwohnung
Schicksalsgemeinschaft mit Bruder
Leben im Zügelchaos
Wann ist der richtige Zeitpunkt?


Zur Kolumne: Weil mich Wohngeschichten schon immer fasziniert haben, rede ich mit Menschen im letzten Lebensdrittel über das Thema Wohnen. Welche Bedeutung hat die Wohnung für eine Person? In welcher Lebensphase sucht man sich eine neue Wohnung? Was ist den Leuten wichtig? Ich freue mich jedesmal auf die Begegnung mit den spannenden Menschen und ihren Wohngeschichten.

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