Die ZHAW und die Universität Genf haben im Auftrag der Pro Senectute Schweiz eine repräsentative Befragung zur Altersarmut in der Schweiz durchgeführt. Wie viele Pensionierte sind von Armut betroffen? Weshalb? Gibt es Auswege aus der Armut?
Am 19. April 2023 referierten Rainer Gabriel von der ZHAW und Alexander Widmer von der Pro Senectute Schweiz über die beiden Teilberichte zur Altersarmut in der Schweiz. Hier die wichtigsten Ergebnisse aus dem Teilbericht 1:
- 86% der Pensionierten verfügen über ein existenzsicherndes Einkommen.
- Im Jahr 2022 sind rund 200 000 Personen im Pensionsalter von Einkommensarmut betroffen, ca. 300 000 sind armutsgefährdet.
- Risikogruppen für Altersarmut sind unabhängig des Alters Frauen, Ausländerinnen und Ausländer und Personen ohne nachobligatorische Bildung.
- Von Einkommensarmut betroffene Pensionierte können die Armut teilweise durch Vermögenswerte kompensieren. 46 000 sind allerdings nicht kompensierbar armutsbetroffen.
- Risikofaktoren für nicht kompensierbar Armutsbetroffene sind die gleichen wie bei der Einkommensarmut, nämlich Geschlecht, Nationalität und Bildung. Zudem sind Geschiedene eine besonders gefährdete Gruppe.
- Nicht kompensierbar Armutsbetroffene sind weniger gesund, einsam und unzufrieden.
- Zwischen den Kantonen gibt es grosse Unterschiede bei der Einkommensarmut und bei der nicht kompensierbaren Armut.
Wichtigste Ergebnisse aus dem Teilbericht 2:
- Geschätzte 15,7% oder ca. 230 000 der zuhause lebenden Schweizer Bevölkerung über 65 beziehen keine Ergänzungsleistungen (EL), obwohl sie Anspruch darauf hätten.
- Von den knapp 200 000 Armutsbetroffenen im Rentenalter sind rund die Hälfte der Anspruchsberechtigten in einer Situation des Nichtbezugs der EL.
- Würde allen Armutsbetroffenen die EL ausbezahlt, würde die Armutsquote schätzungsweise halbiert.
- Der Anteil von Personen, die trotz Anspruchsberechtigung die EL nicht beziehen, haben oft eine geringere Bildung, sind oft Frauen, Personen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft oder stammen aus eher ländlichen Regionen der Schweiz. Zudem bestehen kantonale Unterschiede.
Die beiden Berichte können heruntergeladen werden unter https://www.prosenectute.ch/de/dienstleistungen/publikationen/altersmonitor/altersarmut.html
Ziel 1 der UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung lautet: «Armut in allen ihren Formen und überall beenden!» Dieses Ziel soll wie die andern 16 mit 169 Unterzielen bis 2030 global und von allen UNO-Mitgliedstaaten erreicht werden… (Bild aus Pixabay)
Nach der Veranstaltung konnte Seniorweb je drei Fragen an die beiden Referenten stellen, zunächst an Rainer Gabriel, dann an Alexander Widmer:
Rainer Gabriel, der Armutsbegriff, den Sie in der Studie verwenden und der Armutsbegriff der UNO gehen meilenweit auseinander. Stimmt das?
Ja, gemäss UNO ist ein Mensch von extremer Armut betroffen, wenn er weniger als 1,25 Dollar pro Tag für lebensnotwendige Güter zu Verfügung hat. In der Schweiz definiert man Armut mit dem Begriff des sozialen Existenzminimums, also mit der Möglichkeit, Teil der Gesellschaft sein zu können.
In der Schweiz hört man immer wieder den Slogan «Armut ist weiblich». Einverstanden?
Dieser Merksatz trifft sowohl auf die Erwerbsbevölkerung wie auch auf Personen im Rentenalter zu, aber im Alter ist dieses Muster sogar noch ausgeprägter. Was man aber beachten muss: Hinter dem Effekt des Geschlechts versteckt sich eigentlich ein Bildungs- und Teilzeitstellen-Effekt: Die Frauen, die jetzt im Pensionsalter sind, haben tendenziell tiefere Bildung als Männer, weshalb sie – wenn sie gearbeitet haben – in weniger gut bezahlten Berufen und praktisch nie in Führungspositionen gearbeitet haben. Deshalb haben sie meistens deutlich weniger verdient als Männer. Zudem waren viele vor der Pensionierung nicht erwerbstätig oder wenn, dann nur in einem Teilzeitpensum. Stattdessen haben sie viel mehr unbezahlte Sorgearbeit geleistet als Männer. Beides schlägt sich im Alter in einer tieferen Rente und höherem Armutsrisiko wieder, besonders weil sie häufig keine Rente aus der 2. Säule, der beruflichen Vorsorge, haben.Vermutlich wird die Rentenungleichheit zwischen Frauen und Männern in Zukunft kleiner, weil Frauen jetzt mehr Erwerbsarbeit leisten und mehr verdienen. Ob Frauen wie bisher weiterhin mehr Teilzeit arbeiten als Männer, hängt in Familien von der Aufteilung der Erwerbsarbeit zwischen Mann und Frau ab. Auch hier scheint es immer mehr Männer zu geben, die zugunsten der Frau auf eine 100%ige Erwerbstätigkeit verzichten und in der Familie mehr Care-Arbeit leisten. Das sind Tendenzen, aber eine Gleichheit des Renteneinkommens von Mann und Frau ist bis auf Weiteres Utopie.
Dr. Rainer Gabriel hat 2015 in Sozioökonomie an der Universität Genf promoviert und ist seit 2018 Forscher und Dozent an der ZHAW. Thematische Schwerpunkte: Soziale Gerontologie, Armut und Sozialhilfebezug, Lebenslaufepidemiologie und Healthy Aging, Mortalität, Lebenslaufsoziologie. (Foto bs)
Welches Ergebnis der vorliegenden Armutsstudie hat Sie am meisten überrascht?
Ein völlig neues Ergebnis, was bisher noch nie für die Schweiz berechnet werden konnte, ist der Anteil an Haushalten in einer Position des Nichtbezugs von Ergänzungsleistungen. Hier sieht man, dass 15,7% der anspruchsberechtigten Pensionierten, die zuhause leben, keine Ergänzungsleistungen beziehen, obwohl sie gemäss ihrer Lebenssituation und ihrer finanziellen Verhältnisse Anspruch darauf hätten. Das sind hochgerechnet rund 230 000 Personen. Wenn alle Anspruchsberechtigten Ergänzungsleistungen beziehen würden, wäre die Armut nicht behoben, da es noch andere Ursachen für Armut gibt, aber sie wäre geringer.
Alexander Widmer, wann ist ein Mensch arm?
Rein finanziell betrachtet ist in der Schweiz ein Mensch arm, wenn er nicht über das Existenzminimum verfügt. Das waren in der Schweiz zum Zeitpunkt der Studie 2279 Fr. pro Monat.
Was macht einem Menschen arm?
Im Berufsleben heisst dies, dass man zu wenig verdient bzw. in der Pensionierung ist dies darauf zurückzuführen, dass man in der Erwerbsphase zu wenig verdient hat. Oft spielen auch Schicksalsschläge eine entscheidende Rolle, zum Beispiel wenn jemand plötzlich schwer krank wird und in diesem Zusammenhang den Beruf aufgeben muss, aber auch eine Scheidung kann die finanzielle Situation nachhaltig beeinflussen.
Wie kann man sich im Alter aus der Armut befreien?
Im Alter ist es sehr schwierig. Nach der Pensionierung wieder in eine geregelte Erwerbsphase zu treten ist schwierig. Punktuell kann sich vielleicht noch etwas verändern, substanziell verändert sich die Armutssituation im Alter nur selten. Ein familiäres Netzwerk kann helfen, dieses kommt aber in der Regel früher oder später an seine finanziellen Grenzen. Die Ergänzungsleistungen sind eine Sozialversicherung, die bei Anspruchsberechtigung schnell, d.h. im Normalfall innerhalb von 90 Tagen, ausgesprochen wird und Armut im Alter vermindert. Pro Senectute hilft Betroffenen bei Bedarf, die entsprechenden Formulare auszufüllen. Wenn die Hürde des Bezugs von Ergänzungsleistungen übersprungen ist, kann die Situation von Armutsbetroffenen in aller Regel nachhaltig verbessert werden. Zudem gibt es bei Pro Senectute für besondere Notsituationen punktuelle finanzielle Unterstützung.
Dr. Alexander Widmer ist Mitglied der Geschäftsleitung der Pro Senectute Schweiz und dort zuständig für Innovation und Politik. Er hat an der Universität Zürich Politikwissenschaft und Sozialökonomie/ Wirtschaftsgeschichte und Klassische Archäologie studiert und an der ETH Zürich promoviert. (Foto bs)
Die Veranstaltung über Altersarmut in der Schweiz vom 19. April 2023 wurde von Dieter Sulzer, dem Fachreferenten für Angewandte Gerontologie der ZHAW Hochschulbibliothek organisiert. Weitere Veranstaltungen werden stattfinden. Vor den jeweiligen Veranstaltungen findet eine Einführung in die Benutzung der ZHAW Hochschulbibliothek für Externe, also auch für Pensionierte, statt. Sehr empfehlenswert, um gerontologische Fachliteratur, altersspezifische Filme und Hörbücher kennenzulernen!
Titelbild aus Pixabay
Wenn der Ehemann stirbt – das heisst, wenn man Witwe wird –
bekommt man den höhen Steuersatz – den für Unverheiratete.
Bravo !! ??
Das System AHV ist leider nicht so gut wie es verkauft wird. Der heutige Rentner war das ganze Leben und ist heute noch das «Milch-Chueli» der Nation. Er versteuert seine Rente nochmal, obwohl er schon auf dem Einkommern Steuern bezahlt hat, Militärdienst geleistet etc.
Wenn Sie Existenzminimum und AHV Renten vergleichen fragen Sie sich, wie blöd bin ich eigentlich und alle andern auch?
Besten Dank für das wichtige Thema Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV/IV-Rente. Während meiner Berufsausübung habe ich mich dafür eingesetzt, dass der gesetzliche Anspruch auf Ergänzungsleistungen offiziell mehr publik gemacht wird. Leider wurden meine Bemühungen von den zuständigen Behörden (AHV-Zweigstelle, Gemeinde, Ausgleichskasse des Kantons Bern) nicht unterstützt, sodass ich lediglich in meiner täglichen Arbeit die Rentner*innen auf ihr Recht aufmerksam machen konnte. Dabei wäre es wenig Aufwand, der AHV-Rentenverfügung ein Informationsblatt über die Möglichkeit EL zu beantragen, beizulegen.
Ein Existenz sicherndes Einkommen, auch im Alter, beugt Armut, Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit in der Bevölkerung vor und ist deshalb für uns alle von zentraler Bedeutung. Dass mit der jetzigen Erhöhung des Rentenalters der Frauen, zum Zeitpunkt der immer noch grossen Renten-Ungleichheit zwischen Frau und Mann und sogar mit Androhung gewisser politischer Parteien und Rentenversicherern vor zukünftigen Rentenkürzungen, die Armutsschere immer weiter aufgeht, finde ich ein Armutszeugnis für die demokratische Schweiz und sie zeigt deutlich, wo die Schweizer Politik steht, nämlich auf der Seite der Profiteure unseres Systems.
Dies wird sich fortsetzen in den kommenden Entscheiden über die zweite Säule BVG, wenn nicht energisch und lautstark für die finanziell Schwächeren Partei ergriffen wird. Wir sollten die Macht über die soziale Gerechtigkeit in unserem Land nicht den reichen privaten Versicherungsgesellschaften und Banken, die jedes Jahr viel zu hohe Gewinne legal aber unrechtmässig, weil unter falschen Voraussetzung erschlichen, von den einbezahlten Rentenbeiträgen der Arbeitnehmer*innen abkassieren, oder den konservativen und patriarchalen politischen Strömungen in unserem Land, die am liebsten alles so belassen möchten, wie es schon immer lief, überlassen.
Immerhin gibt es weit mehr Organisationen als früher, die sich speziell für die Generation ü65 einsetzen. Eine möchte ich noch erwähnen, die GrossmütterGeneration, wichtig für das Selbstverständnis der älteren und alten Frauen. Wir alle können, auch dank Abstimmungen, dafür sorgen, dass die Politik sich endlich an unsere Verfassung hält: Alle Bürger*innen der Schweiz sind vor dem Gesetz gleich und die Behörden und gewählten Politiker*innen haben dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Gesetze, wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit und identische Möglichkeiten für Frau und Mann an der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung und dem Erfolg teilzuhaben. Was wäre unsere Volkswirtschaft ohne die vielen unterbezahlten oder freiwillig unbezahlt arbeitenden Frauen: Sie würde zusammenbrechen. Das ist Fakt.