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Von Fotos und ihren Negativen

Mit Worten fotografieren – darin liegt die Kunst des Schriftstellers Ivan Vladislavić aus Südafrika.

Vom Fotografieren handelt das Buch von Ivan Vladislavić «Double Negative», es zieht sich durch alle drei Teile, widerspiegelt die Entwicklung des Ich-Erzählers Neville Lister und zugleich die Entwicklung der südafrikanischen Gesellschaft in den letzten dreissig Jahren.

Nachdem Lister sein Studium abgebrochen hat, schickt ihn sein Vater eines Tages zu Saul Auerbach, er möge den grossen Fotografen einen Tag lang begleiten und ihm bei seiner Arbeit zuschauen. Lister ist beeindruckt, später wird er die fotografierten Personen selbst aufsuchen und mehr erfahren. Zunächst flieht er vor dem Militärdienst nach England, wo er sich als Kellner durchs Leben schlägt, bis ihm ein Freund eine Kamera gibt, und so wird der junge Neville Werbefotograf. Was Lister bei Auerbach eingesogen hat, wirkt jedoch nach. Er erzählt von einer Fotografie, die im Hause seines Onkels hing. «Die machte mir richtig zu schaffen. Mir war nicht klar, was es bringen sollte, ein Foto an die Wand zu hängen.» Immer wieder sucht er die Spuren des renommierten Fotografen, besucht seine Ausstellungen und geht doch seinen eigenen Weg.

So wie Neville Lister nur allmählich zum Fotografen wird, so genau gestaltet der Autor den Aufbau seines Romans. Im ersten der drei Teile begleitet Lister den Fotografen und bleibt fast immer still, lauscht der Diskussion zwischen dem Intellektuellen Brookes und dem Künstler Auerbach. Lister lernt aus der Diskussion und durchs Beobachten, wie der Fotograf vorgeht, und darin liegt eine Lektion fürs Leben. Quasi als Experiment wählen sie sich auf einem Hügel über Johannesburg drei Häuser aus und klopfen auf der Suche nach einer Geschichte an die Türen. Schon bald schwindet an diesem Nachmittag das Licht – essentielle Bedingung für Fotografien – und sie müssen abbrechen. Auerbachs Bilder jedoch werden klassische Portraits.

Ivan Vladislavić © Sophie Bassouls

Während der Jahre in England erlebt Lister das Ende der Apartheid, ohne sich sogleich der Bedeutung dieses Einschnitts bewusst zu sein.
Als Modefotograf kommt er zurück und nimmt die von Auerbach gelegten Fährten wieder auf.
Er versucht sich an Portraitfotografie und besucht eine der im ersten Teil fotografierten alten Damen. In der Unterhaltung mit ihr erfährt Lister viel über das erbärmliche Leben der Townshipbewohner und der Flüchtlinge.

Mrs. Pinheiro hatte nämlich einen aus Simbabwe geflüchteten Arzt geheiratet. Er durfte seinen Beruf in Johannesburg nicht ausüben und sortierte Briefe in der Post. Er tat dies mit aller Gewissenhaftigkeit eines Arztes. Oft kam er mit Briefen nach Hause, deren Adresse er nicht zuordnen konnte oder unleserlich war, weil der Absender nicht richtig schreiben konnte oder der Adressat keine genaue Adresse besass. – Eine indirekte, aber sehr eindrucksvolle Art des Autors, das Elend in den Slums aufscheinen zu lassen.

Die alte Frau hat eine Schlüsselfunktion in diesem Roman, denn auch im dritten Teil besucht Lister sie, um sie zu fotografieren. Inzwischen hat er seinen Stil gefunden und bekommt in einer Gemeinschaftsausstellung Raum für seine Arbeiten – auch die Presse wird auf ihn aufmerksam. Lister nimmt die Journalistin, die einen grossen Artikel über ihn plant, mit auf seine Fototour, sie besuchen Mrs. Pinheiro, und während der Fotograf bedächtig seine Fotoausrüstung auspackt und aufstellt, knipst die Journalistin mal schnell, was ihr interessant scheint. Das Fotografieren ist nämlich in diesem Buch eine konzentrierte und gleichzeitig entspannte Tätigkeit, verbunden mit Einstimmen und Zurechtrücken. Eine Aufnahme zeigt nicht nur das oberflächlich Sichtbare. – «Double Negative» meint: Hinter jedem Bild ist noch ein tiefergehendes verborgen. Das holt man mit dem hastigen Klicken unserer foto-verrückten Zeitgenossen nicht hervor.

‹Double negative› wörtlich übersetzt heisst ‹doppelte Verneinung›, ein Ja auf tönernen Füssen. Steht nicht auch die Gesellschaft Südafrikas in der Nach-Apartheid-Phase noch auf wackligen Beinen?

Wortspiele, kleine bedeutungsvolle Szenen, Metaphern setzt der Autor ein, um die Vielschichtigkeit seiner Figuren herauszuarbeiten. Weniger durch Reflexionen oder intellektuelle Diskussionen erhält dieser Roman Leben, sondern durch subtile Andeutungen, die wie Mosaiksteine Assoziationen wecken. So auch der «Engel der Geschichte» von Paul Klee, über den schon Walter Benjamin geschrieben hatte. In diesem fein konstruierten Roman-Gebäude erfahren wir viel über das Lebensgefühl der Südafrikaner in den Zeiten des Umbruchs – und über dasjenige des modernen Menschen überhaupt. – Ein sehr empfehlenswertes, leicht zu lesendes Buch.

Ivan Vladislavić wurde 1957 in Pretoria geboren, studierte afrikaanische und englische Literatur an der University of the Witwatersrand (Südafrika) und lebt in Johannesburg. Er arbeitet als freier Lektor und Schriftsteller, daneben hat er Werke zu zeitgenössischer Kunst und Architektur herausgegeben, Texte zu Büchern zweier Fotografen geschrieben und Essays, Romane und Erzählungen verfasst. Für seine Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Der Übersetzer Thomas Brückner, ebenfalls 1957 geboren, lebt in Leipzig. Er studierte Afrikanistik sowie Kultur- und Literaturwissenschaften und übersetzt Werke afrikanischer Autoren.

Ivan Vladislavić: Double Negative. Übersetzt von Thomas Brückner
A1-Verlag München; 256 Seiten; gebunden
ISBN 978-3-940666-67-3

Dieses Buch ist in der Reihe «Der Andere Literaturclub» erschienen, einem Projekt von artlink, Büro für Kulturkooperation, das mit litprom verbunden ist.

Ziel von artlink ist es, Kunstformen, Künstler und Künstlerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa bekannt zu machen sowie die Arbeit der in die Schweiz eingewanderten Kulturschaffenden zu unterstützen. Dies als Ausdruck einer der Welt gegenüber offenen Schweiz, die in der interkulturellen Zusammenarbeit eine Chance wahrnimmt, eurozentristische Haltungen zu relativieren, den Respekt vor anderen Formen, Traditionen und Wertesystemen zu fördern und die Welt auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

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