StartseiteMagazinKulturZwischen Gärten und Trümmern

Zwischen Gärten und Trümmern

Der als Lyriker bekannte Durs Grünbein beschreibt in «Die Jahre im Zoo» sein Aufwachsen in der Enge der DDR.

Wer Dresden und die sanfte Weite der Elblandschaft kennt, wer dort sogar selbst gelebt hat, liest den als Taschenbuch gerade neu erschienenen Roman des Dresdner Autors mit besonderer Aufmerksamkeit. 1962, als Grünbein geboren wurde, waren zwar die Trümmer grösstenteils weggeräumt, sichtbar waren noch die vielen öden Flecken in der Stadt, auf denen in diesen Jahrzehnten vielerorts langweilige Plattenbauten entstanden. Auch der kleine Junge erlebte die Folgen der Zerstörung der Stadt im Februar 1945, er stösst immer wieder auf solche Trümmer, ganz konkret und ebenso im übertragenen Sinne. Die Nachkriegszeit – der ökonomische Mangel und der soziale Kleingeist – dauerte in der DDR länger als im Westen, wobei das nicht heisst, dass dort die Ursachen der Zerstörung Dresdens, der 2. Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus gründlicher aufgearbeitet worden seien – ganz im Gegenteil: Alles was mit den Nazis zu tun hatte, wurde in den Westen «ausgelagert», als ob nicht auch die DDR ein Nachfolgestaat des alten Deutschlands gewesen wäre. «Schattendeutschland» nennt Grünbein die DDR, «sie gab sich den Anschein eines weltoffenen Landes.»

Blick von der Brühlschen Terrasse auf Hofkirche und Semperoper (Foto mp)

Dies also steht im Hintergrund von Grünbeins Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Diese gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Faktoren bleiben in diesem Buch aber tatsächlich im Hintergrund. Wer von Grünbein eine sozio-politische kritische Analyse seiner Jahre in Dresden erwartet, schätzt ihn falsch ein. Er ist zunächst Dichter. Seit seiner Jugend dichtet er mit leichter Feder, hat sich mit Gedichten im klassischen Versmass, scheinbar ein Paradox in unserer Zeit, einen Namen gemacht, ist dabei aber nicht stehen geblieben. «Vom Schnee», 2003 erschienen, ist eine überaus kunstvolle, gescheite und witzige Erzählung in Hexameter über eine Reise von Descartes durch Deutschland im Winter 1619.

Sein Buch «Die Jahre im Zoo» nennt Grünbein selbst ein Kaleidoskop. Es folgt keinem zeitlichen Ablauf, der Autor erzählt aus verschiedenen Perspektiven, schreibt teils in Gedichtform, versetzt sich in das stille Kind, in den herumstromernden Jugendlichen, in die Leseratte. Dazwischen erfahren wir Bruchstücke aus der Vergangenheit der Familie, die Geschichten der Grossväter, die eben die deutsche Geschichte beleuchten, und wir erfahren viel über Hellerau, den Vorort im Norden Dresdens, wo Grünbein die grösste Zeit seiner Jugend verbrachte. Das Buch ist, wie Grünbein präzisiert, «ein Kaleidoskop von Scherben».

Festspielhaus Hellerau  © Andreas Praefcke / wikimedia.org

Hellerau ist eigentlich eine unsichtbar behütete Insel, der weder der Nationalsozialismus noch der DDR-Sozialismus gravierenden Schaden zufügen konnte, obwohl das Wesentliche der Gartenstadt Hellerau nur noch Erinnerung war, der sich Grünbein sehr ausführlich widmet. Gegründet wurde der Vorort nämlich zu Anfang des 20. Jahrhunderts von Lebensreformernmit der Absicht, Kunst und Leben neu zu erfinden und zu vereinen, mit neuen Theaterformen, mit modernen Tanzformen, die der Genfer Emile Jaques-Dalcroze einführte, mit Gästen, deren Namen wir alle kennen: Kafka, Rilke, Benn. Wer in der Gartensiedlung wohnen durfte, in den lange nicht mehr renovierten kleinen Häusern, von lauschigen Gärten umgeben, konnte sich glücklich schätzen. – Für den Heranwachsenden muss es der Nährboden für die Pflege seiner Interessen, seine Träumereien und vor allem für sein sich entwickelndes dichterisches Talent gewesen sein. In diesem längsten aller Kapitel stellt Grünbein eine reizvolle Verbindung her zwischen der Metamorphose verschiedener Schmetterlinge und den Pubertätsjahren des Jungen.

Durs Grünbein ist kein homo politicus, er vermeidet Stellungnahmen, deren Konsequenzen er sich nicht aussetzen will. Eine Haltung, die Menschen in Diktaturen entspricht. Ihnen ist die Erkundung ihrer eigenen inneren Welten wichtiger, als sich in der Gesellschaft aufzureiben. Grünbein ist nicht einmal ein ausgesprochen sozialer Mensch, als Kind ist er mit wenigen Freunden zufrieden, später verkehrt er mit denen, die seine Interessen an Literatur und Kunst teilen. Daraus folgt, dass das Buch über seine Jahre in Dresden auch nur indirekt die politischen Verhältnisse beschreibt bzw. kritisiert. Die Essenz des Lebens in der DDR war Enge, die einzigen freien Lebewesen waren die Möwen «in der Volière des geschlossenen Landes», so äussert sich der Autor nach einer Lesung in Bern. Daher auch der Titel: Man lebte in der DDR wie in einem streng bewachten Zoo. Nicht reisen zu dürfen, wohin er wollte, muss für Grünbein am schwierigsten zu ertragen gewesen sein. Ausflüge nach Prag oder Budapest genoss er deshalb sehr, und als er mit einem Freund nach Rumänien fuhr, war das ein Abenteuer sondergleichen. Im Kopf reisen, lesen und immer wieder träumen, dieses Motiv durchzieht das Buch und charakterisiert den jungen Durs – oder, wie er im Gespräch erzählt: «An der Elbe konnte ich mich an den Mississippi träumen und mich Tom Sawyer nahe fühlen.»

Blick von der Frauenkirche auf die Elbe (Foto mp)

Ein wichtiger Schlüssel zur Entdeckung der Stadt waren für den Nachkriegsjugendlichen alte Fotos, die er sammelte und von denen einige im Buch wie kleine Vignetten abgedruckt sind. Ergänzt werden sie von Bildern, die er selbst fotografiert hat. Sie erinnern mich an meine eigenen ersten Fotos, damals musste man sich nämlich mit sehr kleinen Formaten zufrieden geben.

Gefragt, wie er sich das Entstehen einer Pegida erkläre, weist Grünbein darauf hin, dass in all den DDR-Jahren die Zerstörung Dresdens als Märtyrer-Gedenktag zelebriert worden sei, schuld seien immer «die anderen» gewesen, in diesem Falle die «Anglo-Amerikaner», auch dies ein typischer DDR-Begriff. Aus meiner Sicht möchte ich hinzufügen, dass Menschen, die sich stets verletzt fühlten und ihr Selbstmitleid pflegten, sich nur schwer zu mündigen Bürgern entwickeln können. Der DDR-Sozialismus war nur eine Ideologie, ein oberflächlich aufgetragener Lack, unter dem, als er brüchig wurde, Egoismus, Neid und die alten Ressentiments zum Vorschein kamen. Dem entzogen sich diejenigen, die sich nicht abhalten liessen, über die Grenzen hinweg zu blicken und sich dort Informationen und Anregungen zu holen. Denn Menschen wie den Autor dieses Buches gab es noch einige mehr.

 

Durs Grünbein, Die Jahre im Zoo
2017 suhrkamp taschenbuch Nr. 4818; 398 Seiten
ISBN: 978-3-518-46818-0

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