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Schlichten statt Richten

Friedensrichterinnen und Friedensrichter sind mit wenigen Ausnahmen zwingend die erste Instanz auf dem Gerichtsweg für Zivilklagen. Hier werden viele Verfahren rasch, fair und kostengünstig entlang der Zivilprozessordnung abschliessend erledigt.

Gerade während der Corona-Zeiten entstehen besondere Umstände, wie das Interview mit einer Friedensrichterin* im Kanton Zürich deutlich macht:

Seniorweb: Seit die Verhandlungen nach einem sechswöchigen Unterbruch, bedingt durch die bundesrätlichen Verordnungen, am 27. April wieder aufgenommen werden durften, müssen die Hygiene- und Abstandsempfehlungen des BAG strikt eingehalten werden. Was bedeutet das nun, wenn eine Partei eine Schutzmaske tragen möchte und es dadurch möglich ist, die Mimik dahinter zu verbergen?

Friedensrichterin: Dem Uhrmacher, der meiner Armbanduhr eine neue Batterie eingesetzt hatte, musste ich vor verschlossener Glastür mein unmaskiertes Gesicht zeigen, und erst, als ich die Maske aufgesetzt hatte, öffnete er die Ladentür. Das waren seine Sicherheitsvorkehrungen. – In meiner Funktion als Friedensrichterin erhalten die vorgeladenen Parteien am Tag der Verhandlung von mir eine SMS, in der sie gebeten werden, pünktlich am Verhandlungsort zu erscheinen. Ich öffne ihnen die Tür, lasse sie nur einzeln eintreten und biete ihnen das Handdesinfektionsmittel an. Je nach Anzahl der vorgeladenen Personen und wenn es eher enge Platzverhältnisse sind, bitte ich die Anwesenden, eine Maske zu tragen, was ich selbstverständlich auch tue. Es gehört zu meinen Aufgaben sicherzustellen, dass ich tatsächlich die vorgeladenen Personen vor mir habe und nicht vielleicht eine andere oder ein anderer erschienen ist. (Was mir übrigens tatsächlich schon einmal passiert ist. Ein Beklagter hatte einen Freund an die Verhandlung geschickt, da er ihn wohl als beschlagener als sich selbst einschätzte. Auf Grund der ersten Kontrolle konnten wir anschliessend im wahrsten Sinne des Wortes ‚kurzen Prozess‘ machen!)

Die erste Kontrolle ist daher eine visuelle, die zweite geschieht anhand von Dokumenten (ID, Vollmacht+ ID etc.). Während der Verhandlung gehört das ‚Poker Face‘ ohnehin zu den oft genutzten Verhandlungsstrategien der Parteien, so dass es keine matchentscheidende Rolle spielt, ob die Mimik sichtbar ist oder nicht.

Was ist vorgesehen, wenn eine klagende Person zur sog. Risikogruppe gehört und deswegen nicht selbst zur Verhandlung erscheinen möchte?

Das Gesetz sieht einige Gründe vor, weshalb sich jemand vertreten lassen kann. Das Alter gehört auch dazu. Dabei ist das Alter allein kein ausreichender Grund, weshalb jemand nicht an einer Schlichtungsverhandlung teilnehmen könnte. Der Wille zum Verzicht resp. die Unfähigkeit zu erscheinen und die plausible Wahl der Stellvertretung müssen erkennbar sein.

In der aktuellen Zeit ist es möglich, dass jemand an der Verhandlung bei der Friedensrichterin oder dem Friedensrichter teilnehmen möchte, sich jedoch um die Gesundheit sorgt. Der Bundesrat hat richtigerweise festgehalten, dass gerade in Zeiten von Notrecht das normale Funktionieren des Gesetzesvollzugs ganz besonders wichtig ist. Gleichzeitig sind wir als Gesetzesvollzieher angehalten, die Sicherheitsvorkehrungen des BAG einzuhalten. Wir haben es also mit widersprüchlichen Bedürfnissen zu tun, und es ist daher angebracht – wie übrigens auch in unserem Kerngeschäft – vor allem vernünftig und mit Augenmass zu agieren. Deswegen gehe ich folgendermassen vor: Fälle mit wenigen Beteiligten (in der Regel zwei) werden schnell vorgeladen und möglichst speditiv erledigt. Bei den anderen Fällen mit sichtbar hoher Dringlichkeit und mehreren Beteiligten kläre ich ab, ob die Platzverhältnisse, die mir die Gemeinde zur Verfügung stellt, die besonderen Bedürfnisse der Parteien abdecken kann.

In einem pendenten Fall geht es um eine Stockwerk-Eigentümer-Geschichte mit ca. 20 Beteiligten, so dass auch eine Turnhalle den BAG-Vorschriften nur knapp genügen würde, abgesehen davon, dass die Durchführung auch verhandlungstechnisch und emotional erschwert wäre. Ich habe nun die Partei mit den zahlreichen Beteiligten gebeten zu klären, ob sie sich durch maximal zwei mandatierte Personen vertreten lassen möchte, oder ob wir die Verhandlung noch mindestens drei Monate vertagen, bis eventuell neue Rahmenbedingungen gelten. Damit wären die juristischen Fristen respektiert, das heisst, es verjährt oder verwirkt nichts, denn der zu verhandelnde Gegenstand befände sich sozusagen im Dornröschen Schlaf und würde erst wieder geweckt, wenn die Verhandlung stattgefunden hat.

Gibt es Klagen, die gehäuft während der Corona-Pandemie vorgetragen werden?

In meinem Amt sind in zwei Bereichen unserer Zuständigkeit schnell vermehrt Gesuche eingegangen: Zum ersten sind es Geldforderungen. Dabei beobachte ich insbesondere, dass (KMU-) Kunden, die immer gern erst auf den letzten Drücker bezahlt haben, nun sehr schnell mit ihren offenen Rechnungen konfrontiert werden, vielleicht aus einer Corona bedingten Angst, dass man als Gläubiger mit seiner Forderung an eine eh schon marode Unternehmung beim Zuwarten allenfalls in der Konkursmasse landet. Zum zweiten sind es Unterhaltszahlungen, die eine nun arbeitslos gewordene oder anderweitig materiell geschädigte Person ihren veränderten Verhältnissen anpassen möchte.

Sie sind seit rund zehn Jahren als Friedensrichterin tätig. Haben sich im Verlauf dieser Zeit die Probleme, mit denen die Menschen an Sie gelangen, verändert?

Grundsätzlich eher nicht. Hingegen hat sich das Gesetz zwischenzeitlich verschiedentlich geändert. So sind wir u.a. nicht mehr zuständig für Ehrverletzungsklagen, um nur eine Änderung zu erwähnen, die ich ehrlicherweise nicht bedaure. Was ich aber an unserer Arbeit besonders schätze – und das ist unverändert gleich geblieben – ist, dass wir ganz unkonventionell einen Blick auf das Problem hinter dem Problem werfen können. Wenn es beispielsweise vordergründig um 10’000 Franken geht, geht es hintergründig oft um eine gekränkte Seele: Dass diese Seele z.B. zuvor nicht informiert oder gefragt, dass der offensichtliche Goodwill in einer Sache nicht gewürdigt wurde, dass nie ein ‚Dankeschön‘ zu hören war. Es gibt unzählige Gründe, die Enttäuschung, Wut oder Rache wecken. Wenn es an der Verhandlung gelingt, dieses Problem hinter der Forderung sichtbar zu machen und einer Lösung zuzuführen, ist die Sache mit den 10’000 Franken meistens schnell geregelt.

Unterscheiden sich die Klagen älterer Menschen von jüngeren Klägern?

Nicht durchwegs. Vielleicht trifft es zu, dass jüngere Menschen eher schnell und unbedarft auf der Handlungsebene agieren, während ältere Menschen öfter auch Werte wie Gewohnheitsrecht, Respekt und Sorgfalt einfordern Das ist allerdings nur eine subjektive Einschätzung.

Die FriedensrichterInnen sind in zivilen Streitigkeiten in der Regel die erste Instanz. Bevor zwei Parteien an das Bezirks- oder das Handelsgericht gelangen können, müssen sie das Schlichtungsverfahren durchlaufen. Wie hoch ist schätzungsweise der Erfolg der Schlichtungen, so dass sich die Parteien einigen und keine Gerichtsverhandlung mehr nötig ist?

Friedensrichterin: Wir freuen uns und sind stolz darauf, dass wir je nach Region und Jahr 65-75% aller Fälle mit einem Vergleich (das heisst mit einer Kompromisslösung, in die beide Parteien einwilligen) abschliessend erledigen können. Damit ersparen wir den Parteien viel Ärger und Geld und entlasten zudem die Gerichte.

Sie sind eine langjährig erfahrene Mediatorin und Beraterin bei Konflikten. Wie wirkt sich Ihre Berufs- und damit Ihre Lebenserfahrung auf Ihre Tätigkeit als Friedensrichterin aus?

Als juristische Laiin fokussiere ich mich nicht in erster Linie auf die juristischen Aspekte des Sachverhalts, sondern auf den Verhandlungsspielraum, den jede Partei mitbringt. Ich aktiviere Möglichkeiten auch zu unkonventionellen Lösungen und versuche die Versöhnungsbereitschaft der Parteien während der Verhandlung zu stärken. (Einmal hat eine ältere Frau – ohne weitere Forderung – eingewilligt, dass ein junger Mann sein Auto weiterhin auf ihrem Grundstück parkieren darf, als dieser vorschlug, er trage ihr wöchentlich einmal alle schweren Einkäufe die steile Treppe zur Villa hoch). – Ich selbst bin im Rentnerinnenalter; als Friedensrichterin erfahre ich mein Alter eher als Vorteil. Man zollt mir meistens Respekt, und ich selbst habe das Gefühl, die Arbeits- und Lebenserfahrung hilft mir bei der Leitung von Schlichtungsverhandlungen.

Welches ist Ihr Rat vor allem an die ältere Bevölkerung, damit sogar der Gang zur Friedensrichterin, zum Friedensrichter obsolet wird?

Das Friedensrichteramt befindet sich auf der Stufe zwei im Konfliktschema. Dieser vorgelagert ist die Selbstregelung, das heisst: ‚Miteinander reden‘ oder noch vorher, sich in die andere Person einfühlen: Warum verhält sie sich so, wie sie sich verhält? Aus dieser Empathie heraus das Gespräch suchen und dabei vor allem auch von sich selbst und der eigenen Befindlichkeit in dieser Angelegenheit sprechen. Wenn das nichts nützt, dann soll der Richter oder die Richterin entscheiden. Das wäre Stufe drei. Wir, die FriedensrichterInnen positionieren uns dazwischen: Selbstregelung mit Unterstützung und Aussensicht in den Sachverhalt.

Meine Empfehlung also: Das Gespräch suchen und, falls möglich, sich schon da trauen, das Problem hinter dem Problem anzusprechen.

Als weiteres erfahre ich immer wieder, dass ErblasserInnen mit ihrem Testament für langanhaltenden Unfrieden und Streit sorgen. Wäre es nicht eine noble Sache zu denken, selbst wenn es vielleicht zu Lebzeiten nicht ausreichend gelungen sein sollte: Mit meinem physischen Ende stelle ich mich nicht in den Dienst des Streits, sondern in den Dienst des Friedens?

*Um den Persönlichkeitsschutz aller Beteiligten zu wahren, bleibt der Name der Friedensrichterin anonym.

Titelbild: vfzh.ch

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