Heilung durch Dada-Nonsens und Annäherung an einen unsterblichen Mythos – Gleich mit zwei Theaterpremieren startet das Schauspielhaus Zürich in die neue Spielzeit: „Das Weinen (Das Wähnen)“ nach Texten von Dieter Roth, inszeniert von Christoph Marthaler, und „Medea*“ von Euripides, inszeniert von Leonie Böhm.
Der 1998 verstorbene Künstler Dieter Roth ist ein Extrem- und Alleskünstler, weltberühmt dank seiner Schimmelbilder. In seinem Schaffen vereint er so unterschiedliche Medien wie Literatur, Assemblage, Installation, Druckgrafik, Buchkunst und neue Medien. Weniger bekannt sind seine schriftstellerischen und dichterischen Werke, die heute meist vergriffen sind. Nun kommt es zur ersten „hochöffentlichen Begegnung“ (O-Ton Schauspielhaus) von Dieter Roth und Theatermacher Christoph Marthaler, von zwei «Schweizer Sonderfällen», wie eine Tageszeitung in der Vorbesprechung anmerkt. Entstanden ist ein kunterbunter Theaterabend auf der Pfauenbühne, an dem das Absurde, das Verschrobene Urstände feiert.
Weisse Pharma-Engel schön choreografiret
Schauplatz ist eine aseptische Apotheke, ausstaffiert mit Theke, schön beschrifteten Medikamentenregalen, Sitzgelegenheiten und einer elektronischen Waage (Bühnenbild: Duri Bischoff). Es ist ein Ort des täglichen Lebens, so sollte man meinen, an dem Verzweiflung und Hoffnung eng verbunden sind. Doch hier wird keine Heilung angeboten, sondern Roths Nonsens-Texte, vorgetragen von fünf engelhaften Pharmazeutinnen, die mit slapstickartigen Auftritten für viel Heiterkeit sorgen. Mit von der Partie ist auch ein störender Kunde im Karoanzug, der von den Damen wie eine Puppe mehrfach auf die Waage gestellt und wieder hinausgetragen wird und der am Schluss als helvetischer Jesus unter seinem funkelnden Schweizer Apotheken-Kreuz zusammenbricht.
Ein Sonderling als Kunde, getragen von den Pharma-Engeln (v.l.: Magne Havard Brekke, Liliana Benini, Elisa Plüss, Susanne-Marie Wrage, Olivia Grigolli.
Die Damen, alle schön in Weiss gekleidet, verschieben Medikamente von einem Regal ins andere, vollführen tollkühne Gesten und Verrenkungen, rezitieren singend Roth-Texte, mal solo, mal im Chor, lesen Beipackzettel vor mit endlosen Nebenwirkungen. Alle Auftritte sind ballettartig choreografiert, es herrscht ein ständiges Auf und Ab mit immer neuen Einfällen. Die verwurstelten, paraphrasierten Roth-Texte mit vielen Wiederholungen vermitteln wenig Sinn, dafür klanglichen Reiz ohne gewünschte Wirkung. Dazu gibts Musik von John Dowland, Schubert, Tschaikowsky und Mozart, teils hingebungsvoll gesungen, teils vom Plattenteller. Typisch Marthaler, wie man ihn kennt. Geboten wird ein absurdes Spiel, das just in der gegenwärtigen Corona-Krise an die Vergänglichkeit erinnern soll.
Nikola Weisse, Grande Dame des Schweizer Theaters, liest den Beipackzettel mit endlosen Nebenwirkungen vor.
Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler (Liliana Benini, Magne Havard Brekke, Olivia Grigoli, Elisa Plüss, Nikola Weisse, Susanne-Marie Wrage) zeigen ein grandioses Spiel. Allen voran Nikola Weisse als Grande Dame des Schweizer Theaters, die stoisch gelassen und eigenbrötlerisch eher widerwillig den dadaistischen Nonsens mitmacht, während die übrigen Pharma-Damen tänzelnd, gestikulierend und parlierend das absurde Geschehen vorantreiben. Geboten wird rundum ein vergnüglicher Theaterabend, der aber nicht gefeit ist vor allzu vielen Wiederholungen, die auf Zeit langweilen. Dafür gabs am Premierenabend reichlich Applaus.
Eine radikal entschlackte Medea
In seinem etwa 431 v. Chr. entstandenen Drama „Medea“ entnimmt Euripides das Thema der „Argonautensage“ aus der griechischen Mythologie. Das ist die Geschichte von Jason, seinen Mitstreitern, den Argonauten sowie der Jagd nach dem „Goldenen Vlies“. Medea verliebt sich in Jason, hilft ihm, aus seinen Abenteuern immer heil herauszukommen, heiratet ihn, bekommt mit ihm Kinder, wird aber letzten Endes von Jason wegen einer Jüngeren verlassen. Selbstverständlich ist Medeas Rache fürchterlich. Jasons Geliebte, deren Vater König Kreon und die gemeinsamen Kinder werden von Medea gemeuchelt; Jason aber bewusst in Kummer, Schmerz und Verzweiflung am Leben gelassen.
Apokalyptischer Schluss mit Stierkopf: Maja Beckmann mit Zauberkleid.
In der Inszenierung von Leonie Böhm wird die Tragödie radikal entschlackt. Geboten wird in der Schiffbau-Box eine eigene Lesart des Dramas, die mit dem Original nur noch wenig zu tun hat. Im Mittelpunkt steht keine rachsüchtige Medea, sondern eine Medea, die schmerzvoll mit sich ringt, ihr Handeln reflektierend zu erklären versucht. Absicht der Regisseurin ist, eine Medea zu zeigen, die nicht blind vor Wut ist, sondern fähig ist, „sich zu entscheiden und bei sich zu bleiben“. Dabei verwendet sie weitestgehend Auszüge aus dem Originaltext.
Zwei Personen stehen auf der Bühne, Medea und ihr Freund Johannes (charmant gespielt von Johannes Rieder), ein Musiker in Hippiemontur, der auf dem Keyboard herumklimpert und mit Medea Spässe treibt. Alle anderen Figuren wurden gestrichen. Die ganze Bühne ist mit weissen Stoffbahnen ausgekleidet (Bühnenbild: Zahava Rodrigo), für Leonie Böhm eine Art Petrischale, „auf der man zwischenmenschliche Verhaltensmuster beobachten kann“.
Zum Schluss eine Vernichtungsorgie
Anfänglich albern die beiden mit dem Publikum über Schutzmasken und social distancing, dann legt Medea, angespornt von Johannes, mit ihrem Auf und Ab der Gefühle los. Meist dem Publikum zugewandt, bejammert sie ihr Schicksal als Verbannte, demonstriert wild gestikulierend ihre Wut auf Jason, die kaum auszuhalten sei, hadert mit sich selbst, beschwört das Publikum, dass sie keine bösen Pläne hege, hofft auf Heilung, küsst und liebt Johannes mit Schutzmaske bis über die Augen. Am Ende wird es dramatisch: Medea schlüpft in ein Zauberkleid, ein Brautgeschenk von Jason, stülpt sich eine Stierkopfmaske über, ihr Kopf verbrennt, Säure verätzt ihren Körper. Ein apokalyptischer Schluss, der viele Fragen offen lässt. Das Recht auf Kränkung endet in einer Vernichtungsorgie.
Spässe mit Musik: Maja Beckmann und Johannes Rieder. Fotos: Gina Folly
Maja Beckmann spielt eine sehr bedachte Medea, die ihr Gefühlschaos beherrscht und nuancenreich verkörpert. Ihr Suchen und Ringen wirkt streckenweise kopflastig und anbiedernd. Vom echten Leiden ist in dieser reduzierten Version eher wenig spürbar. Doch insgesamt zeigt sie eine reife Leistung, die am Premierenabend mit viel Applaus verdankt wurde.
Weitere Spieldaten:
Das Weinen (Das Wähnen): 22., 24., 25., 27. September, 14., 15., 18., 19., 28., 30. Oktober (Pfauen)
Medea*: 25., 27., 30. September, 2., 3., 7., 8., 31. Oktober, 4. November (Schiffbau-Box)