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Ein Augenschein in Moutier

Wie Sand im Getriebe erscheint der Besucherin die Gefühlslage der Menschen im bernjurassischen Moutier anlässlich des 40-jährigen Bestehen des Kantons Jura.

Im Juni dieses Jahres lud der Kanton Jura die Regierungen aller Kantone nach Saignelégier ein, um die lang umkämpfte Gründung des Kantons vor vierzig Jahren würdig zu begehen. Buchstäblich im letzten Moment teilten die Berner Regierungsräte mit, dass sie aus Sicherheitsgründen nicht an der Feier teilnehmen würden. Ausgerechnet die Berner, mit denen die Jurassier doch so hart und unerbittlich um die Kantonsgründung gerungen hatten. Von den Behörden des Kantons Jura verlautete, dass zu befürchten war, dass die Regierungsräte aus Bern zumindest hätten beschimpft werden können.

Die immer noch schmerzende Wunde der Kantonszugehörigkeit, Ursache für die befürchteten Misstöne, war im November 2018 wieder aufgebrochen: Die zuständige Regierungsstatthalterin hatte eine Abstimmung in Moutier für ungültig erklärt: Im Juni 2017 hatten sich die Einwohnerinnen und Einwohner des Uhrenstädtchens für einen Kantonswechsel entschieden, allerdings nur mit knapper Mehrheit. – 1974, als es darum ging, welchen Umfang der neue Kanton erhalten sollte, war die Abstimmung in Moutier ebenfalls knapp ausgegangen, damals aber für einen Verbleib bei Bern.

Zwischen Jurahöhen und Wäldern

Eines Nachmittags fuhr ich nach Moutier, um selbst zu schauen, wie sich das kleine Städtchen präsentierte. Freundlich antworteten mir die Menschen auf der Strasse oder im Café, wenn ich sie auf Französisch um Auskunft bat – aber über den aktuellen Zwist wollte niemand wirklich reden. Nur eine Person äusserte im Laufe eines langen Gesprächs spontan: «Hier sind wir doch alle Jurassier», und drückte damit ihre Sympathie für einen Kantonswechsel aus. – Aber für wie viele Menschen in Moutier gilt das?

Rathaus und Hauptplatz

An Sehenswürdigkeiten ist Moutier nicht sehr reich. Der schöne Platz vor dem Rathaus schien mir grosszügig für das Städtchen, aber viel weniger gross als auf den Fotos, die den Platz voller Demonstrierender zeigen. Etwas ausserhalb liegt das älteste Bauwerk von Moutier, die Kapelle La Chalière, ein echtes Kleinod, das man nicht verpassen sollte. Das schlichte, romanische Kirchlein dient heute als Friedhofskapelle und stammt wahrscheinlich aus dem 10. oder 11. Jahrhundert. Erst bei einer Renovation in den Jahren 1934/1936 entdeckte man wunderschöne mittelalterliche Fresken. Ob sie eher burgundische Einflüsse aufweisen oder Wandmalereien im Kloster Oberzell der Insel Reichenau ähneln, darüber sind sich die Experten nicht einig.

Fresken aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts in der Kapelle La Chalière

Einzigartig ist das Historische Museum «Le tour automatique». Es dokumentiert die lebhafteste Epoche in der Geschichte von Moutier. Hier erfahren wir eindrucksvoll, was den Stolz und die Wirtschaftskraft von Moutier gegen Ende des 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte: die Erfindung und Fabrikation der Langdrehmaschinen (franz.: tour automatique). Diese Maschinen, die anfänglich als Tretmaschinen funktionierten und alten Nähmaschinen ähnelten, wurden weltbekannt und ihre Präzision ist der Grund ihres Erfolges. Sie prägten die Geschichte der Stadt Moutier über 120 Jahren.

Von der Handarbeit zum Dreh- und Fräsautomat

Stolz stellte der Begründer des Museums fest: «Die automatische Langdrehmaschine hat die Herstellung der Uhren revolutioniert. Sie ist unsere Erfindung, geschaffen hier im Jurabogen.» Während früher alle Bestandteile einer Uhr in vielen kleinen Ateliers überall im Jura in Handarbeit hergestellt wurden, arbeitete die neue Drehmaschine automatisch. Diese diente nicht nur der Uhrenfabrikation, sondern auch der Werkzeugherstellung. Es entstanden grosse Fabriken, nicht nur in Moutier, wo diese Maschinen in langen Reihen aufgestellt waren. Nachdem zunächst jede einzelne Maschine einen Motor als Antrieb besass, wurde die Technik mit dem Aufkommen der Elektrizität verbessert, ein Antrieb für einen ganzen Saal genügte dann.

Drehautomat 1872, Konstruktion von Jacob Schweizer, dem Gründer der ersten derartigen Fabrik in Moutier.

Die Arbeitsbedingungen waren allerdings sehr belastend, Lärm und Tempo hoch. Im Museum sehen wir bei einer Maschine ein Päckchen mit Kopfschmerzpulver, das jeder Arbeiter unentgeltlich erhielt, wie ich erfuhr. Das lässt darauf schliessen, welchem Stress die Arbeiter ausgesetzt waren.

Die früheste Industrie, die sich in Moutier angesiedelt hatte, war die Herstellung von Glas. Geeigneter Quarzsand war in der Nähe zu finden. Das Wasser der Birs und das Holz der umliegenden Wälder lieferten die Energie für die Glasschmelze. Uhren wurden seit 1810 in Moutier hergestellt. Dies gemeinsam mit der Erfindung und Herstellung der Langdrehmaschinen liess die Jurastadt zu einem «industriellen Leuchtturm» werden, wie Beteiligte gern sagen.

Auf dem Schreibtisch von André Bechler:  Mit diesen Werkzeugen wurden vor 100, nein noch vor 70 oder 60 Jahren Berechnungen durchgeführt.

Im Museum wurde es der Besucherin nicht langweilig, denn hier herrscht eine seltene Regel: Niemand kann das Haus, das 1992 in der Villa eines früheren Besitzers eingerichtet wurde, allein besichtigen. Das wäre zu heikel für die vielen offen ausgestellten Maschinen, die Laien nicht selbst bedienen können. Zudem müssen die finanziellen Mittel sparsam eingesetzt werden. So kommt die Besucherin in den Genuss einer Privatführung durch einen ehemaligen Angestellten, Jean-Louis Schlup, der nach seiner Pensionierung als freiwilliger Mitarbeiter weitere Maschinen restauriert und bei Bedarf Führungen durchführt. Auch als Laie begreife ich etwas über diese berühmten Maschinen und darüber, welcher Wandel in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. – Waren es vor ein paar Jahrzehnten noch mehrere Tausend Arbeiter, so sind jetzt nur noch ein paar Hundert in der einzigen verbliebenen Fabrik angestellt. Aus leergeräumten Fabrikhallen wurden Supermärkte.

Ein charismatischer Chef

Jean-Louis Schlup war sein ganzes Arbeitsleben in diesem Metier beschäftigt. Die Besitzverhältnisse änderten aus Altersgründen oder aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Einer der bemerkenswertesten Erfinder und Konstrukteure war André Bechler. Sein Schreibtisch steht noch da, gleich ordentlich aufgeräumt, wie sein Mitarbeiter ihn sah, wenn er zum Chef gerufen wurde. Schlup hält ihn für den begabtesten Ingenieur in seinem Gebiet. Stets sei er damit beschäftigt gewesen, weitere Verbesserungen zu entwickeln. Er begnügte sich nicht mit Werkzeugmaschinen, sondern konstruierte ein Dreirad mit Motor, das keine Verbreitung fand, da der Benzinmotor zu schwer war. Bechler entwarf später auch ein elegantes Auto, das nie gebaut wurde.

Dreirad mit Seitenmotor. Dem Fahrrad wurde neben dem Hinterrad noch ein zweites Rad angefügt, das den Motor tragen sollte.

Der Schock der Erfindung der digitalen Uhren, die digitale Massenproduktion und der Niedergang der Handwerkskunst und ihrer manuellen Werkzeuge hat Moutier schwer getroffen. Dem Museum kommt nun die Aufgabe zu, dieses Erbe aufzubewahren, die Erfinder, die Konstrukteure und die Arbeiter an den Maschinen in Erinnerung zu behalten. Nebst den technischen Objekten besitzt das Museum auch eine umfangreiche Sammlung von Zeitungen und vielen anderen Gegenständen aus den letzten zwei Jahrhunderten. – Selten informiert ein Museum so eindrucksvoll über die Seele einer Stadt wie dieses.

Historisches Museum «Tour automatique» in Moutier

Titelbild: Wandbild im Museum (alle Fotos mp)

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