Wandmalereien an Mauern im öffentlichen Raum gibt es da und dort. Einige Orte in Kalabrien sind regelrechte Street-Art-Galerien. Die Gemälde sind meist realistisch und naiv, oft mit poetischem Einschlag. Aus einer Notlage heraus entstanden, bieten sie Identifikationsmuster und Verarbeitungshilfen im Kampf um ein besseres Leben.
Bekannt oder gar berühmt für seine Murales ist Diamante, tief im Süden der italienischen Halbinsel. Das Städtchen – la perla del Tirreno – liegt in der Provinz Cosenza auf einem Felsvorsprung direkt am tiefblauen tyrrhenischen Meer. Im Hinterland steigen steil die Berge des Pollino auf. Davor liegt ein eng bebauter Streifen mit Oliven- und Zitronatzitronenhainen.
Diamante besitzt eine schöne Flanierpromenade.
Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle der Einwohner, weitere Erwerbsquellen sind die Fischerei und die Produktion von Zitronat. Ausserdem feiert der Ort jährlich im September das Festival des Peperoncino. Seinen Glitzer-Namen verdankt das Städtchen dem Fluss Corvino, der Splitter eines glänzenden und leuchtenden Minerals mit sich führt und in das vor Diamante liegende Meer spült.
Erinnerungen an den Sommer – im Oktober sind die Gäste längstens weg.
Das Städtchen hütet die zu Beginn der achziger Jahre des letzten Jahrhunderts entstandenen, zum Teil restaurierten Wandbilder. Es kommen jedes Jahr neue Bilder dazu. Viele der älteren Gemälde sind naturalistisch und nehmen auf vergangene Zeiten Bezug.
Ein Lebensgefühl ist auf älteren Murales oft zu sehen: Nostalgie.
Die Malereien geben die Lebensverhältnisse in ihren historischen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen Aspekten wieder. 1981 wurden im Rahmen einer zehntägigen Aktion, an der auch Dichter und Musikanten teilnahmen, zunächst 83 Bilder gemalt. Einwohner der Altstadt stellten ihre Wände in Gassen und auf Plätzen zur Verfügung.
Das Mittelmeer mit Mythen, Träumen und Hoffnungen von Helden und Migranten
Nani Razetti (1924-2013), ein lokaler Künstler, hatte Künstlerinnen und Künstlern, grösstenteils aus Italien stammend, nach Diamante geholt zu seiner ,,operazione murales“ genannten Aktion. Thematisch drehen sich die zum Teil versteckt liegenden ,,pitture murale» vor allem um die Auswanderung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Trauer und Hoffnungslosigkeit
Die Wandmalereien bilden Hoffnungen und Sehnsüchte auf ein besseres Leben ab, aber auch das Warten und die verzweifelte Resignation der Zurückgebliebenen.
Die Zeit scheint stillzustehen. Eine durch Melancholie und Trauer gekennzeichnete Szene fügt sich völlig in die Umgebung der Straße und der Häuser ein.
Verschuldung und Taglöhnerschaft verhinderten Initiative und Selbstbestimmung, das zeigen einige der Malereien. Es gibt andererseits Bilder, die das Aufwachen und die Suche nach Lösungen thematisieren. Die Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts – aufgrund von Wirtschafts- und Agrarkrisen, Missernten und Hungersnöten auch in anderen europäischen Ländern – war wie ein Ventil für die notleidende Bevölkerung. Amerika gab Hoffnung und war das Land, von dem man eine fundamentale Besserung der eigenen Lage erwartete. Zu jener Zeit war auch die Schweiz ein Auswanderungsland, vor allem die Bergregionen waren betroffen.
«Plötzlich verstand ich, was ich wirklich in meinem Leben will,» beginnt der Text auf diesem Murale.
Motive aus der Natur werden zu Symbolen
Man fühlte sich sehnsüchtig von der Ferne angezogen. Gleichzeitig war sie fremd. Man gab etwas Vertrautes auf, setzte aber Vertrauen in die Zukunft. Die starke Verwurzelung in der Heimat blieb, obwohl sie ja so ambivalent erlebt wurde. Und die Bilder blieben – man nahm sie mit.
Diamante, Stadt aus dem 16. Jahrhundert – gut eingepasst
Unter den neueren Murales gibt es auch zeitgenössische Stilelemente. Eines der Wandbilder wirkt wie ein fotografischer Pointillismus. Streng durchgehalten erscheint diese wohldurchdachte Komposition im alten Städtchen zuerst etwas fremd.
Modern Art trifft auf Strassenalltag von Riace (oben) und eine Gedenktafel der linksliberalen gemeinnützigen Assoziation ARCI für den linken Politiker Giuseppe «Peppe» Valarioti, ermordet 1980 von der Ndrangheta, der kalabrischen Cosa Nostra (unten).
Murales gibt es in vielen Ortschaften Süditaliens. Auch das Strassenbild von Riace, dem bekannten Bergdorf, das eine Zeitlang Migranten integrieren konnte (wir berichteten darüber), ist davon geprägt. Einige Murales tragen auch politische Botschaften.
Ganz anders präsentieren sich die Wandmalereien in der Altstadt der Provinzhauptstadt Cosenza. Sie ist im deutschen Sprachraum bekannt dank der Ballade von August Graf von Platen (1796-1835) „Nächtlich am Busento lispeln, bei Cosenza, dumpfe Lieder…,“ wonach die Westgoten im Jahre 410 ihrem König Alarich I. eine letzte versteckte Ruhestätte mitten im Wasser errichtet hatten. Die schöne Altstadt – früher das Athen Kalabriens genannt – ist dem Verfall preisgegeben. Nach einem starken Bevölkerungsrückgang wäre die Sanierung der kaum mehr bewohnten Altstadt Voraussetzung für eine neue Attraktivität.
Cosenza wurde wiederholt durch Erdbeben verwüstet, so 1181, 1638 und am 4. Februar 1783, als mehr als 30’000 Menschen den Tod fanden und alle älteren Bauwerke einstürzten. Daran erinnert eine Wandmalerei, deren Umgebung – bröckelnder Putz und nackte Bruchsteinmauer – der passende Rahmen ist.
Cosenza nach dem schweren Erdbeben im 18. Jahrhundert
Szene des Verfalls in Cosenza: Weg mit dem alten Haus – wenn es nur selber gehen könnte.
Eines der berühmtesten Wandbilder der ganzen Region Kalabrien ziert den Justizpalast der Provinzstadt Crotone. Es zeigt die beiden sizilianischen Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, die beide kurz hintereinander bei Attentaten im Sommer 1992 von der Mafia heimtückisch ermordet wurden.
«Falcone e Borsellino» nach dem berühmten Foto vonTony Gentile am 27. März 1992 in Palermo, hier umgesetzt von der jungen kalabrischen Künstlerin Lucy Mey.
Neuere Murales können riesig sein, wie das auf der Fassade der Primarschule Aldisio. Es ist mehrteilig und klagt die Arbeitslosigkeit der Jungen und die neuerliche Emigration an, indem es zugleich die alte Auswanderung darstellt. Die gleichen Elemente sind wieder da: das passive Abwarten, die Hoffnung und der Verlust der Heimat.
Street Art in Catanzaro in Erinnerung an die grosse Emigration vor über hundert Jahren. Gemalt hat das gigantische Wandbild der einheimische Künstler Smoe, der damit kritisch aufs Heute verweist.
Und als letztes Bild ein Gemälde, welches typische Elemente der Pittura murale vereinigt. Statt ein Plakat geklebt wurde ein Wandbild gemalt, das Thema naiv und mit Humor dargestellt, die Inschrift eine Reflexion, die das Interesse des Betrachters gefangen nimmt.
Ein Murale zum Zafarana-Fest 2015 in Tortora mit der Inschrift «Der wahre Durchbruch ist die Tradition».
Fotos: Justin Koller
Beitragsbild: Surrealismus – stand Salvador Dalì Modell?
Hier gibt es weitere Informationen zur Region Kalabrien
siehe auch: Auch die Heiligen waren Flüchtlinge