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Welche Wahrheit?

Wenn die Bibliotheken und Buchhandlungen geschlossen sind, die sozialen Kontakte auf das Minimum heruntergefahren werden mussten und man sich häufiger als sonst in der Wohnung aufhält, fällt der Blick mitunter auf den Buchrücken eines literarischen Werks, das einem in berührender Erinnerung geblieben ist. Berührend und aufwühlend zugleich, weil es sich mit einem Thema befasst, das uns besonders in diesen ruhigeren Zeiten zum Nachdenken über das eigene Leben anregt.

«Die Eisbären» von Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) zum Beispiel, erstmals erschienen 1966 im Insel Verlag. Kaschnitz schafft in dieser Erzählung eine Atmosphäre, die auch nach erneuter Lektüre wieder unter die Haut zu gehen vermag.

Die Protagonistin hatte schon geschlafen, als sie hörte, wie sich der Schlüssel im Türschloss drehte und ihr Mann nach Hause kam. Sie solle kein Licht machen, bat er, er wolle mit ihr im Dunkeln darüber reden, wie es wirklich war, damals, als sie im Zoo vor dem Eisbärenkäfig stand, den Kopf hin und her wandte, als wartete sie auf jemanden. Er wolle endlich die Wahrheit wissen. Seine Stimme klang fremd. Die Ehefrau tat ahnungslos: Welche Wahrheit denn? Er solle sie das Licht anmachen lassen und in der Küche etwas essen gehen. Sie habe auf ihn gewartet, obwohl sie sich noch nicht gekannt hätten, aber man könne auch auf jemanden warten, den man noch nie gesehen hat.

Ihr Mann gab sich damit nicht zufrieden. Wir beide sind ihm sogar begegnet, daran erinnere ich mich genau, sagte er nicht nur einmal, sondern noch zwei weitere Male. Die Frau reagierte erbost, wies ihn zurecht. Sie liebe doch nur ihn, niemanden sonst. Du hast mich also nicht genommen, weil du von einem anderen Mann im Stich gelassen worden bist? Du hast mich geliebt. Ja, log sie. Und in dem Augenblick, als sie an der Kette ihrer Nachttischlampe zog, klingelte es an der Tür. Polizeibeamte kamen schweren Schrittes die Treppe herauf. Ihr Mann, sagten sie, sei bei einem Autounfall so schwer verletzt worden, dass er die Verletzungen wohl nicht überleben werde.

Mit diesem Ende der Erzählung lässt uns die Autorin ziemlich verwirrt zurück. Die Frage, weshalb die Ehefrau auch in grösster Bedrängnis nicht die Wahrheit sagte, müssen wir selbst beantworten.

Marie Luise Kaschnitz: Eisbären. Kunstanstifter Verlag, Mannheim, 2019. Mit Illustrationen von Karen Minden. 64 S.

 

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2 Kommentare

  1. Danke, liebe Dagmar, für die Anregung, über Wahrheit nachzudenken. Darüber kann man sich nie genug Gedanken machen.
    Danke auch für die Anregung, wieder einmal Marie Luise Kaschnitz zu lesen. An «Eisbären» hatte ich mich nicht erinnert. Als ich in mein Bücherregal schaute, fiel mir der Inselband Nr. 4 mit diesem Titel gleich ins Auge, 1980 erschienen und im gleichen Jahr von mir erworben. Diese Erzählungen werde ich mit Vergnügen wieder lesen.

    • Ich freue mich, liebe Maja, dass dich der Beitrag angesprochen hat. In dem Band befinden sich noch viele weitere Erzählungen, die mich immer wieder berühren.

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