Als hätte Elisabeth Strout einfach nur gut zugehört, beobachtet und mitgeschrieben, was in Crosby so alles passiert, in dieser kleinen Stadt an der Küste von Maine.
Da ist beispielsweise der 74 Jahre alte Jack Kennison, bis zu seiner Pensionierung Professor in Harvard und fest davon überzeugt, er habe es verdient, jetzt so dazusitzen mit der Einlage in seiner Unterhose wegen seiner Prostata. Nicht er, sondern seine Frau Betsy müsste noch leben, und dass sich seine lesbische Tochter von ihm distanziere, sei nur allzu verständlich, denn er habe ihr Arges zugefügt. Doch dann beginnt Jack sich nach Olive zu sehnen, Olive Kitteridge, die pensionierte Mathematiklehrerin, die wir bereits in Strouts Bestseller ‹Mit Blick aufs Meer› (auf deutsch 2010 erschienen) kennengelernt haben.
Olive ihrerseits ist so unglücklich über ihren erwachsenen Sohn und dessen Patchwork Familie, wie Jack mit seiner Tochter. Ausser für diesen Mann, den sie dann tatsächlich heiratet, interessiert sich Olive auch sonst für alles, was in Crosby geschieht, und sie hat zu allem eine dezidierte Meinung.
In lose verbundenen Kapiteln erleben wir sie aus unterschiedlichen Perspektiven, sei es aus der Sicht von Kayley Callaghan, einer Halbwaisen, die neben dem Schulunterricht putzen geht und später in einem Doughnutladen arbeitet, um zum familiären Einkommen beizutragen. Oder wir nehmen an einer Geburt auf dem Rücksitz von Olives Auto teil, weil das ’spatzenhirnige junge Ding› die Wehen nicht richtig deutete.
Berührende Begegnung
Zu einer berührenden Begegnung kommt es zwischen Suzanne Larkin und Bernie Green. Erschüttert durch den Brand ihres Elternhauses, bei dem ihr Vater ums Leben kam, sucht die Tochter Suzanne bei dessen Anwalt tröstenden Rat. Während des Gesprächs findet Bernie Green selbst Zugang zu seinen seelischen Tiefen, die er bisher sogar vor sich selbst verschlossen hatte.
Das sind nur einige wenige Episoden, die Elisabeth Strout bei aller Ernsthaftigkeit lebensnah und mit subtilem Humor, mitunter auch mit Sarkasmus erzählt, wobei Olive als Protagonistin in jedem Kapitel eine tragende Rolle spielt und immer wieder mit ihrer Geradlinigkeit oder auch ihrem Mitgefühl überrascht.
Die gekonnt erzählten kurzen Geschichten über das Alleinsein oder die Krankheiten, die das zunehmende Alter mitunter mit sich bringt, regen in vielerlei Hinsicht dazu an, über das eigene Leben nachzudenken, bestenfalls sogar mit einer liebevollen Leichtigkeit.
Elisabeth Strout: Die langen Abende. Luchterhand Verlag München, 2020. 349 S.