Lea Haller und Romaine Farquet von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) haben die Psychologin Tania Zittoun gefragt, was das Älterwerden mit sich bringt.
Eben noch war sie auf einer Konferenz in Kanada, jetzt sitzen wir in der Berner Altstadt an einem Café-Tisch. Tania Zittoun, Professorin für soziokulturelle Psychologie an der Universität Neuchâtel, ist eine gefragte Expertin. Sie untersucht, wie sich Menschen entwickeln, auch und gerade in Phasen des Umbruchs. Ihre Forschung zeigt: Selbst wenn äusserlich vieles wegbricht, innerlich können wir immer wieder Ressourcen mobilisieren und uns auch im hohen Alter noch lustvoll weiterbewegen.
SAGW: Frau Zittoun, Sie interessieren sich dafür, wie Menschen Übergangsphasen bewältigen. Das Älterwerden ist eine Übergangsphase par excellence. Was sind die grössten Herausforderungen in diesem Prozess?
Tania Zittoun: Ich würde nicht unbedingt von Herausforderungen sprechen – das klingt nach Problembewältigung. Es geht beim Älterwerden ja nicht um eine Übergangsphase, sondern um mehrere, und zwar auf einem Lebensweg, der weitergeht. Viele denken, dass sich nur Kinder und Jugendliche entwickeln und es nachher nichts mehr zu lernen gibt. Doch gerade im letzten Lebensabschnitt eröffnen sich nochmals Möglichkeiten, neugierig zu sein, zu lernen, sich neu zu erfinden. Das sind Herausforderungen im positiven Sinn.
Es geht also nicht nur um einen Verlust, sondern auch um einen möglichen Gewinn?
Tania Zittoun, Professorin für soziokulturelle Psychologie an der Universität Neuenburg
Man fokussiert meist auf den Verlust, aber es gibt tatsächlich auch neue Chancen. Klar, nach einer gewissen Zeit hat man physische Einbussen. Doch die mentalen Einbussen kommen in der Regel erst spät. Arbeiten aus der Neuropsychologie zeigen, dass unser Gehirn äusserst flexibel ist, dass es immer wieder neue Dinge machen kann. Man kann körperlich älter sein als geistig, und man kann weiter lernen und sich entwickeln. Die Herausforderung ist, das auch wirklich zu tun, auch wenn man irgendwann eine Brille, einen Gehstock, einen Treppenlift oder eine Alterswohnung braucht.
Was hilft, solche Umbrüche als Chance und nicht nur als Zumutung zu sehen?
Menschen lernen besser und entwickeln sich eher weiter, wenn sie das, was sie tun, als sinnvoll erfahren. Man sollte ihnen also ermöglichen, Tätigkeiten aufrechtzuerhalten, die bedeutsam sind für sie, wie Freunde treffen, Kinofilme schauen, einen Garten pflegen. Man muss diese Tätigkeiten an die neuen Lebensrealitäten anpassen.
Der Genfer Fotograf Thierry Dana dokumentierte 2001 persönliche Gegenstände, die Seniorinnen und Senioren bei ihrem Eintritt ins Altersheim Bon-Séjour in Versoix mitgenommen hatten. Es sind scheinbar unbedeutende Alltagsgegenstände: eine Mütze, eine Schachtel farbige Kreidestifte, ein blauer Mantel. Was bedeuten sie?
Thierry Dana zeigt in «L’Objet d’une vie» eindrücklich, dass Gegenstände ein Teil von uns verkörpern – ein Teil unserer Erfahrungen, unserer Geschichte, unserer Identität. Es ist wie bei Aladin und der Wunderlampe: Wenn man an der Lampe reibt, steigt der Lampengeist empor, und wir erinnern uns an das, was war. Allerdings sind die Menschen verschieden. Es gibt Leute, die keine enge Bindung an Gegenstände haben, für die aber zum Beispiel Landschaften wichtig sind. Ihnen macht es nichts aus, alles zurückzulassen, aber sie möchten weiterhin den Mont Racine sehen, sie sagen: Mit diesem Berg vor Augen habe ich gelebt. Auch äussere Gegebenheiten können also eine symbolische Ressource sein.
Entscheidend ist, dass man dem eigenen Dasein Sinn geben kann?
Ja. Denn was heisst Sinn? Es bedeutet, dass man die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft verknüpfen kann. Dass man den Gefühlen und Erinnerungen eine Form gibt. Dass man aus dem eigenen Leben ein zusammenhängendes Gewebe herstellt.
Trotz aller Sinnstiftung: Die meisten Leute wollen nicht ins Altersheim.
Die Fachhochschule Haute École Arc hat eine Studie gemacht und ältere Leute gefragt, ob sie zuhause alt werden oder irgendwann in ein Wohnheim gehen möchten. Über achtzig Prozent wollten zuhause bleiben! Diesen Leuten ging es allerdings noch relativ gut. Die knapp zwanzig Prozent, für die das Altersheim eine Option war, waren bereits stark von Hilfe abhängig. Man sieht daran auch, dass viele ein negatives Bild vom Altersheim haben: Es ist für sie der Ort, an den man hinzieht, wenn es nicht mehr anders geht, und dann auf den Tod wartet. Doch nicht immer ist das Selbständigwohnen die bessere Lösung. Eine ältere Frau sagte mir einmal: Ich war zuhause, aber mein Mann war tot. Meine Kinder waren weg. Ich hätte gern Menschen getroffen, aber es waren keine Menschen da, ich schaute aus dem Fenster und sah nur Wald. Sie zog dann in ein Alterswohnheim, um wieder Menschen zu sehen, um Beziehungen zu knüpfen.
Ist Einsamkeit das grösste Risiko, wenn man zuhause bleibt?
Die soziale Isolation ist tatsächlich ein bedeutendes Risiko. Und ich meine nicht einfach das Alleinsein – viele Leute sind gern allein. Ich meine den Moment, wo man daran zu leiden beginnt. Und da spielt auch das Umfeld eine Rolle. Die Menschen sind vielfach eingebunden, sie zahlen etwa bei der lokalen Poststelle die Rechnungen, sie gehen ins Café am Ende der Strasse, sie unterhalten sich mit der Nachbarin. Wenn nun die Poststelle abgeschafft wird, das Café schliesst, die Nachbarin wegzieht, fallen wichtige Bindungen weg. Dieses soziale Gewebe aufrechtzuerhalten, ist eine öffentliche Aufgabe.
Wer spielt welche Rolle? Die Frage stellt sich auf der Bühne wie im Leben. Aufnahme aus dem Stück «Staging Age II» des «Théâtre de la Connaissance», Oktober 2023. Bild: Liora Zittoun
Gibt es zuhause auch grössere physische Risiken?
Eine Standardwohnung ist nicht an die Bedürfnisse älterer Menschen angepasst. Wenn jemand zuhause wohnen bleiben will, muss man Teppiche entfernen, die Beleuchtung verbessern, Handläufe montieren, eine Form der Kontrolle installieren. Aber es geht nicht nur um Technisches. Es gibt auch sekundäre Risiken, etwa für die betreuenden Angehörigen. Sie leisten unbezahlte Arbeit, stehen oft rund um die Uhr zur Verfügung, haben eine hohe psychische Belastung. Über sie spricht man nicht, man erwartet einfach, dass sie das aus Elternliebe tun.
Der Kanton Neuchâtel investiert seit 2012 massiv in den Bau von Alterswohnungen. Ist das der goldene Weg?
Nur eine kleine Anzahl Menschen braucht intensive Pflege. Wenn man vermeiden will, dass jene, die eigentlich noch selbständig leben könnten, in Alters- und Pflegheime gehen, hängt alles davon ab, dass man die nötigen Bedingungen für dieses autonome Leben schafft. Die Wohnungen, die man im Kanton Neuchâtel baut, sind barrierefrei, es gibt gemeinsam genutzte Räume, Einkaufsmöglichkeiten und öffentlicher Verkehr sind nah. Einmal pro Woche kommt jemand auf einen Höflichkeitsbesuch vorbei und fragt, ob alles in Ordnung ist. Das ist ein Erfolgsmodell. Es gibt aber auch zahlreiche private Initiativen. Im Val-de-Ruz gibt es eine Alters-WG, in der sich die Mitbewohner um eine pflegebedürftige alte Dame kümmern. Andere teilen ihr Haus oder ihren Garten. Beim intergenerationellen Wohnmodell Appart’Âge oder beim Modell «1h par m2», das in Genf beliebt ist, vermieten ältere Leute ein Zimmer zu sehr günstigen Konditionen an junge Studenten, die dafür Informatikunterricht erteilen oder Dinge im Haushalt erledigen, beim Genfer Modell für eine Anzahl Stunden pro Quadratmeter. Mietrechtlich sind solche Vereinbarungen nicht vorgesehen, juristisch gibt es keinen Rahmen dafür. Es sind kreative Lösungen «von unten».
Am 28. Mai 2024 organisierten die Akademien der Wissenschaften Schweiz einen Austausch zwischen Wissenschaftler:innen und Parlamentarier:innen zum Thema «Gute Betreuung älterer Menschen zu Hause». Tania Zittoun war eine der Expertinnen, die an diesem Anlass teilnahm. Die Präsentationen sowie die Zusammenfassung der Veranstaltung finden Sie hier: Science et Politique à table!
Lea Haller ist promovierte Historikerin und Generalsekretärin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW).
Romaine Farquet ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW).
Titelbild: Wie ist es, in der heutigen Gesellschaft alt zu werden? Das «Théâtre de la Connaissance», ein Projekt der Universität Neuchâtel, sucht den Dialog mit der Gesellschaft. Aufnahme aus dem Stück «Staging Age II: Crépuscule des bêtes» unter der Leitung von Nicolas Yazgi, Oktober 2023. Bild: Liora Zittoun.
Ich finde das Alter wird in der Öffentlichkeit viel zu sehr psychologisiert und pathologisiert. Alt werden ist ein Teil des Lebens. Das Problem ist, dass in unserer Gesellschaft alte Menschen immer noch mit einem negativen Stigma behaftet sind, denn alles was nicht mehr produktiv ist und nicht mehr zum Wohlstand beiträgt oder nicht zu den Vermögenden zählt, gehört in die Abstellkammer. Was für ein Menschenbild steckt hinter dieser abschätzigen Haltung? Meines Erachtens passt es genau zum Welt- und Menschenbild, das durch die Industrialisierung im 20. Jahrhunderts seinen Anfang nahm: Maschinen und der Profit stehen über den Bedürfnissen des Menschen und der Natur.
Es ist gut und wichtig, dass heutzutage die Aufmerksamkeit gegenüber betagten Menschen steigt und ihre Bedürfnisse ernster genommen werden. Hinterfragt werden sollte jedoch nicht das Altern an sich, sondern wie unsere Gesellschaft mit ihrem Profitdenken damit umgeht. Sei es in modernen Alterseinrichtungen, die wie Pilze aus dem Boden schiessen, gebaut als lukrative Investitionen von Pensionskassen und Versicherungsgesellschaften. Es entstehen zuhauf Residenzen und Alterswohnungen mit überflüssigem Luxus, die mit einer Durchschnittsrente nicht bezahlbar sind. Oder sei es in medizinischen Einrichtungen und Behandlungszentren, wo für natürliche Altersgebrechen immer mehr Tabletten und neue Therapien von Spezialärzten verschrieben werden und nur zu schnell zu teuren Operationen geraten wird.
Wir werden alle einmal sterben, denn alles Lebendige ist vergänglich. Wenn wir das verinnerlicht haben, wird das Altern als normal und selbstverständlich wahrgenommen. Dass dieser Prozess Veränderungen mit sich bringt, ist genau so logisch wie die Veränderungen in unseren vorherigen Lebensprozessen als Baby, als Kind, als Jugendliche und im Erwachsenenalter. Das politische Gemeinwesen ist in erster Linie dafür verantwortlich, dass das Alter in der Gesellschaft positiv wahrgenommen wird und in Würde gelebt werden kann.