2 KommentareWieviel ist genug? - Seniorweb Schweiz

Wieviel ist genug?

Die westliche Industriegesellschaft lebt über ihre Verhältnisse. Die Klimakrise mit Überschwemmungen da, Hitze- und Dürreperioden dort, sind unmittelbar sichtbare Folgen. Wie kann eine Klimakatastrophe vermieden werden? Ist eine Rückkehr zum menschlichen Mass ein frommer Wunsch?

Bruno Kern hat ein Buch geschrieben mit dem Titel «Industrielle Abrüstung jetzt! Abschied von der Technik-Illusion». Er will die Klimakrise mit einem «system change», einem Systemwandel bekämpfen und hält wenig davon, Klimapolitik nur mit technischen «Lösungen» betreiben zu wollen, etwa indem man Benzin- durch Elektroautos ersetzt, usw. Die reichen Industrieländer sollten sich stattdessen vom «herrschenden systemstabilisierenden Konsumismus» verabschieden. Ein geplanter Schrumpfungsprozess sei der einzige Ausweg aus der Klimakatastrophe. Das erste Kapitel trägt denn auch die Überschrift «Die Rückkehr zum menschlichen Mass».

Damit steht er nicht allein. Im Jahre 2023 hat er das Buch des brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff mit dem Titel «Die Suche nach dem rechten Mass. Wie der Planet Erde wieder ins Gleichgewicht kommt» übersetzt und ein eigenes Schlusskapitel hinzugefügt. Hier bringt er gleich zu Beginn ein Zitat von Erich Fromm aus dem Jahre 1979: «Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab.» Ebenfalls aus den Siebzigerjahren zitiert der Theologe und ehemalige Dominikaner-Mönch Bruno Kern aus dem Papier «Unsere Hoffnung» der Würzburger Synode:

«Mit zunehmender Deutlichkeit erfahren wir heute, (…) dass die Grenzen der wirtschaftlichen Expansion, die Grenzen des Rohstoff- und Energieverbrauchs, die Grenzen des Lebensraums, die Grenzen der Umwelt- und Naturausbeutung eine wirtschaftliche Entwicklung aller Länder auf jenes Wohlstandsniveau, das wir gegenwärtig haben und geniessen, nicht zulassen. Angesichts dieser Situation wird von uns – im Interesse eines lebenswürdigen Überlebens der Menschheit – eine einschneidende Veränderung unserer Lebensmuster, eine drastische Wandlung unserer wirtschaftlichen und sozialen Lebensprioritäten verlangt (…). Es werden uns neue Orientierungen unserer Interessen und Leistungsziele, aber auch neue Formen der Selbstbescheidung, gewissermassen der kollektiven Aszese abverlangt.» Soweit ein Nachhall auf die «Grenzen des Wachstums» des Clubs of Rome von 1972.

Konkrete Vorschläge

Bruno Kern macht auch konkrete Vorschläge. Er plädiert für eine «ökologische Verkehrswende» durch «den konsequenten Abschied vom motorisierten Individualverkehr.» Weiter greift er den Ressourcenverbrauch in der Bau-, Stahl- und Zementindustrie an. Auch die Chemieindustrie, die Verpackungsindustrie mit einem immer noch hohen Kunststoffbedarf und die «derzeitige Agrarindustrie» werden faktenreich mit Kritik eingedeckt. Völlig verzichten sollten wir aus seiner Sicht auf die Rüstungsproduktion: «Es ist an Absurdität kaum mehr zu überbieten, dass wir uns mit einem gigantischen Ressourcenaufwand auf künftige Kriege um knapper werdende Ressourcen vorbereiten.» Und weiter: «Angesichts der heutigen Potenziale an Destruktivkraft auch bereits unterhalb der Schwelle der Massenvernichtungswaffen ist auch ein – völkerrechtlich noch als legitim betrachteter – ‘Verteidigungskrieg’ keine verantwortbare Option mehr. Die Antwort auf einen Aggressor kann heute sinnvollerweise nur in Strategien einer sozialen Verteidigung bestehen.»

Westliche Politik von links bis rechts wagt zurzeit nicht zu einer «Kultur der Genügsamkeit, der Konsumverweigerung» aufzurufen. Zu gross ist die Angst vor massivsten Wählerverlusten in den «Konsumdemokratien». Wahlgewinne werden verbucht, wenn man Abschottung predigt, Grenzzäune gegen Migrationsströme errichten will und die eigene Wirtschaft wieder auf Vordermann zu trimmen verspricht. Lebens- und Konsumgewohnheiten, die den Planeten zerstören, werden zu wenig kritisiert und man betreibt gerne Symptombekämpfung im ökologischen Gewande, green washing.

Eine globale Überwindung der Klimakrise und die Bekämpfung der Ursachen von globalen Flüchtlingsströmen, indem überall ein lebenswertes Leben ermöglicht wird, stehen nicht auf den Agenden von «Politikgrössen», die vor allem Wählerstimmen aus dem eigenen Volk gewinnen wollen und einen Zeithorizont bis zum nächsten Wahltermin im Blick haben.

Die globale Aufrüstung der Armeen deutet darauf hin, dass man im Westen und Osten bereit zu sein scheint, den Kampf um Ressourcen im Notfall auch mit Kriegen gewinnen zu wollen. Aber ein militärischer Sieg über irgendeinen «Feind» löst fundamentalere Probleme nicht. Es geht schliesslich um das Überleben der Menschheit und um ein gutes Leben zukünftiger Generationen. All die Putins und Trumps und Kleinformate davon ermöglichen keine erfreuliche Zukunft aller auf diesem Planeten.

Eine Kultur des Genug

Menschliches Mass, wie dies in allen Hochkulturen gefordert wird, hat im Moment nicht Konjunktur. Die Inschriften am Apollotempel in Delphi «Nichts im Übermass» und «Erkenne dich selbst» werden übersehen. Die Gier als eine Ursache des Leidens im Buddhismus, ist dem Kapitalismus als Hab- und Machtgier strukturell inhärent. Päpstliche Enzykliken wie «Laudato si. Über die Sorge für das gemeinsame Haus» von 2015 oder «Fratelli tutti» mit dem «Traum von einer Geschwisterlichkeit ohne Grenzen und einer universalen Liebe» werden nicht mal innerkirchlich breit diskutiert und erzeugen im Moment maximal bei vielen ein müdes Lächeln.

Für eine Rückkehr zum menschlichen Mass braucht es offenbar noch viel grössere Schockerlebnisse als die aktuellen Kriege und Umweltkatastrophen. Der Stern der Ersatzreligion «Kapitalismus» ist nach gut zweihundert Jahren am Sinken. Der Kapitalismus hat neben seinen kurzfristigen Genüssen und sensationellen technischen Erfindungen national und global abgrundtiefe Gräben zwischen Arm und Reich geschürft und dabei die Natur teilweise irreparabel ausgebeutet, wodurch ein gutes Lebens zukünftiger Generationen auf diesem Planeten gefährdet wird.

Bruno Kern und Leonardo Boff bringen in ihren Büchern zwar Lösungsvorschläge, Probleme bei deren Umsetzung werden aber zu wenig in den Blick genommen. Die beiden Bücher sind trotzdem ein Denkanstoss für Menschen, deren politischer Horizont über das eigene Portemonnaie hinausreicht.

Ende 2023 waren gemäss UNHCR weltweit 117,3 Millionen Menschen auf der Flucht und auf der Suche nach einem besseren Leben. Rechte Parteien feiern im Moment Wahlerfolge, indem sie Abschottung und Errichtung von Grenzzäunen propagieren mit dem Versprechen, für die eigene Bevölkerung den sogenannten Wohlstand zu bewahren… America first,  Switzerland first…Auch dies wird sich als Illusion erweisen. Wir werden uns lokal und global fragen müssen, was wachsen soll, weil es zum Wohlergehen aller beiträgt und was  schrumpfen oder verboten werden soll, weil es mit der menschlichen Weiterexistenz auf Erden langfristig nicht verträglich ist.

Bruno Kern: Industrielle Abrüstung jetzt! Abschied von der Technik-Illusion. Marburg 2024. ISBN: 978-3-7316-1563-7. Zum Autor: Dr. Bruno Kern, geboren 1958 in Wien, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn. Er promovierte mit einer Studie über die Marxismusrezeption in der Theologie der Befreiung. Zurzeit arbeitet er als selbständiger Lektor, Übersetzer und Autor in Mainz.

Leonardo Boff: Die Suche nach dem rechten Mass. Wie der Planet Erde wieder ins Gleichgewicht kommt. Deutsche Übersetzung Bruno Kern. Berlin 2023. ISBN: 978-3-643-15387-6. Zum Autor: Leonardo Boff, Prof.em., Dr. theol., geboren 1938 in Brasilien, ist einer der Gründungsväter der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, die er wesentlich zu einer «Ökotheologie der Befreiung» weiterentwickelt hat. Boff ist Mitautor der Erd-Charta und Träger des «alternativen Nobelpreises.»

Titelbild: Ein Mädchen geht auf ausgetrocknetem Boden. (Foto pixabay)

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2 Kommentare

  1. Hans A. Pestalozzi formulierte es vor einigen Jahrzehnten sehr treffend:
    »Wir sind für Wachstum«, war der Titel einer Inseraten-Kampagne der Schweizer Banken. »Das Wachstum der Wirtschaft muss angekurbelt werden«, so das Rezept der Manager. Verdrängt man denn die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte? Warum ist man nicht fähig, einige ganz einfache Rechnungen zu machen? 2% Wachstum bedeutet Verdoppelung in 35 Jahren. Eine Verdoppelung muss man sich ganz konkret vor Augen führen. Dies heisst: In 35 Jahren von allem, was wir heute in der westlichen Industriewelt an materiellen Gütern und Dienstleistungen haben, doppelt so viel! Doppelt soviel Strassen, Doppelt soviel Autos, Doppelt soviel Häuser, Doppelt soviel Ferienreisen, Doppelt soviel Medikamente, Doppelt soviel Bier, Doppelt soviel Koteletten usw. Jeder nur einigermassen vernünftige Mensch sieht sofort ein, dass ein solches Rezept heller Wahnsinn ist. Aber die Herren wollen ja nicht 2% Wachstum, sondern 6%, um ihre Probleme lösen zu können»

  2. Wachstum ist bei vielen Zukunftsforschern längst ein «Unwort», denn Wirtschaftswachstum basiert auf Kapitalismus und dieser ist nur möglich durch die Ausbeutung der Natur, der Menschen und der Tiere sowie der Gier der Menschen. Mit dem Jahrhunderte andauernden, weltweiten Kolonialismus im Norden und Westen und vor allem seit der Industrialisierung glauben wir ein Recht darauf zu haben, uns alles für unsere eigenen Interessen und ohne Rücksicht auf die betroffenen Völker und ihre Umwelt, zu unserem Vorteil anzueignen und auszuschlachten.

    Dieses Vorgehen brachte vielen Reichtum und einigen Völkern einen gewissen Wohlstand, jedoch auch soziale Ungerechtigkeit und ist moralisch gesehen, bewusste Vorteilsnahme vor jenen, die nicht von diesem «Fortschritt» in gleichem Masse profitieren. Diese Ungleichheiten in einer Gesellschaft sind politischer Zündstoff und befördern jene Kräfte, wie vor den beiden grauenhaften Weltkriegen, die wiederum nur ihre eigenen Ziele verfolgten und die Manipulation des Volkes nur Mittel zum Zweck war.

    Warum lernen wir nicht aus der Vergangenheit und warum werden demokratisch regierte Staaten zur Zeit immer mehr von radikal einseitig denkenden Kräften unter Druck gesetzt? Dass in den USA ein verurteilter krimineller Betrüger, Lügner, Rassist und Egomane die Mehrheit der Wählerschaft, befördert vor allem durch die Medien, für sich gewonnen hat, ist ein Alarmzeichen und ein Aufruf, unsere demokratischen Werte zu verteidigen und die Macht des Kapitalismus, wie er heute funktioniert in Frage zu stellen. Wieviel Wohlstand braucht der Mensch, damit ein friedvolles Zusammenleben in einer Gesellschaft möglich ist?

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