StartseiteMagazinWissenDer Wind - mal ein Lüftchen, mal ein Sturm

Der Wind – mal ein Lüftchen, mal ein Sturm

Die Kultur- und Naturgeschichte des Windes von Louise M. Pryke beschreibt nicht nur die wissenschaftlichen Grundlagen, sondern erzählt davon, wie die Winde in Mythen, Religionen, Kunst und Literatur wehen und die Menschen seit der Antike inspirieren.

Wind kann helfen – beim Segeln zum Beispiel ist er unerlässlich. Als Orkan kann Wind zerstören – seit Urzeiten muss sich die Menschheit auf wechselnde Winde einstellen. Genauer gesagt: Der Wind in seiner Urkraft ist älter als alle Lebewesen, er entstand wohl gemeinsam mit unserem Planeten. Die Autorin schreibt im Vorwort, sie habe sich das Ziel gesetzt, «ein grösseres Bewusstsein für dieses unsichtbare und dennoch so kraftvolle Naturphänomen zu schaffen». Denn der Wind prägt das Aussehen der Erde ebenso deutlich wie Gletscher und Flüsse unsere Landschaften formen.

Wussten Sie, dass Wind sich von Gebieten mit hohem Luftdruck zu denen mit niedrigem Luftdruck bewegt, und zwar fliessen die Lüfte im Uhrzeigersinn um ein Hochdruckgebiet und gegen den Uhrzeigersinn um ein Tiefdruckgebiet. Das gilt für die Nordhalbkugel der Erde. In einem breiten Gürtel um den Äquator wehen die Passatwinde aufgrund der Erdrotation besonders regelmässig. Die Autorin berichtet darüber, dass erst in jüngerer Zeit erkannt wurde, welch grosse Bedeutung diese Passatwinde, die auf Englisch trade winds heissen, für Geografie, für die Weltgeschichte und -kulturen besassen.

Louise M. Pryke studierte Alte Geschichte an der Universität von Sydney und gehört nun der Lehr- und Forschungsabteilung an. Sie interessiert sich besonders für erzählende Literatur im Alten Orient und für die Verbindungen zwischen Mensch, Tier und Spiritualität in den Mythen und Epen der Antike. Bemerkenswert, mit welchem Geschick die Althistorikerin auch Phänomene ausserhalb ihres Fachbereichs gut verständlich erklären kann.

«Vom Winde verweht» – Buch und Film wurden weltberühmt

Haben Sie schon einmal ein literarisches Werk mit Blick darauf gelesen, welche Rolle der Wind darin spielt? Im bedeutendsten Epos aus dem frühen Mesopotamien, dem Gilgamesch-Epos, haben einige der wichtigsten Gottheiten eine Verbindung zum Wind. Der oberste Gott trägt den Namen Enlil, das bedeutet «Herr Wind», dazu passend heisst seine Frau Ninlil die «Herrin des Windes». Im Laufe der Erzählung um die Hauptperson, den jungen Gilgamesch, spielen Winde immer wieder eine entscheidende Rolle. Auch in anderen Erzählungen aus dem Zweistromland kommen Winde vor, oft als zerstörerische Kräfte. Die Gottheiten benutzen bestimmte Winde, um ihren Willen durchzusetzen.

Antonio Jacobsen: Segelschiff St. Mary / commons.wikimedia.org

In der Bibel, die mit den alten Mythen Mesopotamiens in Verbindung steht, hat der Wind jedoch eine befriedende Funktion: Gott schickt den Wind, um die Sintflut zu beenden und das irdische Leben vor dem Aussterben zu bewahren. In der Bibel wie in vielen anderen Schriften spirituellen Inhalts besitzt der Wind schöpferische Kräfte, gilt aber auch als Symbol der Vergänglichkeit: «Wer hat den Wind in seine Hände gefasst», heisst es im Buch der Sprüche. – Sorgfältig widmet sich Louise Pryke der Darstellung der Winde in den verschiedensten antiken Zeugnissen.


«Der Wind, der Wind, das himmlische Kind», rufen Hänsel und Gretel, als die Hexe wissen will, wer an ihrem Lebkuchenhäuschen knabbert. (Grimms Märchen)


Louise Pryke untersucht die Wind-Vorstellungen von Völkern aller Kontinente. Die Navajos, eines der Urvölker Nordamerikas, verstanden den Wind als Atem, der allen Wesen Leben einhaucht. Die Weisen sagen, dass «der Wind, der das Leben belebt, in den Wirbeln der Fingerabdrücke sichtbar ist und in den Wirbeln der Staubstürme, die sich drehen und über offene Weiten galoppieren.» – Das letzte ist wohl eine Anspielung auf die dort häufigen Tornados. – Der Atem als Träger und Überträger des Lebens ist auch im Buddhismus und im Yoga eine zentrale Vorstellung.

Von ihrem Lebensmittelpunkt Sydney aus blickt die Autorin auf den pazifischen Raum mit seiner Vielfalt von Inseln und ihren Kulturen – Schiffe waren dort das wichtigste Verkehrsmittel und Wind unverzichtbar. In Polynesien, zu dessen wichtigsten Inseln Hawaii und seine Nachbarinseln gehören, ist vor allem der Nordostpassat von grosser Bedeutung, nicht nur für die Segelschifffahrt, sondern auch für die Bestäubung von Pflanzen. Die Winde tragen die feinen Samen über Tausende von Kilometern in andere fruchtbare Landstriche. Der hawaiianischen Windgottheit Paka’a werde die Erfindung des Segels zugeschrieben, schreibt Pryke. Auf Hawaii gebe es Wetterexpertinnen und -experten, die sich auf die Interpretation der Winde verstehen, ebenso wie es (andernorts) Sterndeuter tun.

Pazifiksegler, ein Verwandter unseres Mauerseglers. Foto: Valeria Kowaleva / commons.wikimedia.org

In einem weiteren Kapitel erfahren wir viel über zerstörerische Winde, in einem anderen über Winde unter dem Gesichtspunkt von Handel und Technologie, Windkraft und seine Nutzung fehlen dort nicht. Schliesslich betrachtet die Autorin unsere europäische Kunst, Literatur und Pop-Kultur unter dem Aspekt des Windes.

Früher Windmühlen – heute Windgeneratoren

Sie schliesst mit Blick auf Klimawandel und die Zukunft unseres Planeten mit den Worten, dass die konstanteste Eigenschaft der zerstörerischen und schöpferischen Winde seine Wandelbarkeit sei – vieles bleibe unbegreiflich. Ein Buch, das uns vieles lehrt und dazu anregt, weiter nach allem zu suchen, was unseren Horizont erweitert.

Louise M. Pryke und Claudia Huber (Übersetzung): Wind. Eine Kultur- und Naturgeschichte. Haupt Verlag Bern 2024, 232 Seiten, 105 Farbfotos.
ISBN: 978-3-258-08367-4

Titelbild: Wind  © Dimitris Vetsikas /pixabay.com

 

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