Träume sind Inszenierungen von Wünschen. Sie zeigen symbolisch ein verdrängtes Begehren. Literarische Träume sind dafür aussagekräftige Exempel.
Von Helmut Bachmaier
Am Schluss von Franz Grillparzers dramatischem Märchen „Der Traum ein Leben“ (1834) stehen die Verse, die das Verständnis von Träumen nachhaltig beeinflusst haben:
„Doch vergiss es nicht, die Träume,
Sie erschaffen nicht die Wünsche,
Die vorhandnen wecken sie;
Und was jetzt verscheucht der Morgen,
Lag als Keim in dir verborgen.“
Also nicht die Träume erwecken irgendwelche Wünsche, sondern die vorhandenen, aber verdrängten Wünsche lösen das Traumgeschehen aus. Damit hat der Dichter Franz Grillparzer dem grossen Traumdeuter Sigmund Freud den Schlüssel für die Entzifferung der Traumwelt geliefert, von Freud auch stets einbekannt. In seinem epochalen Werk „Die Traumdeutung“ (1899, mit dem Erscheinungsdatum 1900 – als symbolischem Zeichen einer neuen Zeit) hat Freud den Traum als eine imaginäre „Wunscherfüllung“ definiert.
Wunscherfüllung
Titelbild der Traumdeutung von Freud
Ein Bedürfnis, eine Triebregung wird abgewehrt, verdrängt, und setzt sich dann im Traum wieder durch, allerdings verhüllt, verdichtet oder verschoben, kurz: zensiert. Die Traumzensur (sie arbeitet mit Auslassungen, Modifizierungen, Umgruppierungen der Trauminhalte) bewirkt die Entstellung des Traumes; sie ist Folge der „Traumarbeit“. Durch diese entsteht die Differenz von „latentem“ und „manifestem“ Trauminhalt. Der latente Trauminhalt bezeichnet das eigentliche Wunschobjekt und Wunschziel, der manifeste dagegen die symbolische Verkleidung dieser eigentlichen Bedeutung. Die Analyse hat – so Freud – die Aufgabe, hinter den Verschlüsselungen den eigentlichen, latenten Inhalt, den konkreten Wunsch, der nur ersatzweise und imaginär erfüllt wird, zu entdecken.
Machtträume
In Grillparzers Drama spielt ein Grossteil der Handlung in einer Traumwelt. Rustan, der Anti-Held des Stücks, lebt in einer engen, in jeder Hinsicht bescheidenen Welt und möchte daraus ausbrechen, seinen Traum vom eigenen, grandiosen Ich, sein Grössen-Selbst, verwirklichen. Dieser Ausbruch ist die eigentliche Traumhandlung des Dramas. Seine imaginäre Lebensbahn führt ihn steil nach oben: Er schwingt sich zum Eroberer eines Königreiches auf, was er aber nur durch Betrug und Gewalt erreicht.
Am Ende ist er jedoch froh, aus dem Alptraum seiner Machtphantasien wieder zu erwachen. Grösse und Ruhm erscheinen ihm jetzt gefährlich und ein leeres Spiel, und er nimmt Vorlieb mit einer patriarchalischen Idylle der Biedermeierwelt:
„Eines nur ist Glück hienieden,
Eins, des Innern stiller Frieden,
Und die schuldbefreite Brust.
Und die Grösse ist gefährlich,
Und der Ruhm ein leeres Spiel;
Was er gibt, sind nicht’ge Schatten,
Was er nimmt, es ist so viel.“
Funktionen des Traums
Der Traum hat in Grillparzers Besserungsstück verschiedene Funktionen: Er schildert den Prozess einer Individuation anhand von Symbolbildungen im Traum (im Sinne C.G. Jungs); er ist die Modellsituation eines verdeckten, lange Zeit verdrängten und dann imaginär erfüllten Wunsches (Freud) und sein Dementi; er ist die Vorführung eines Minderwertigkeitskomplexes und seiner versuchten Bewältigung (im Sinne Alfred Adlers), und er ist die psychopathologische Inspektion einer ganzen Epoche: Die Harmlosigkeit des Biedermeiers ist nur erträumt. Ödipale Konstellationen, Selbstbestrafungen, narzisstische Exzesse, suizidverdächtige Autoaggressionen, Kastrationskomplexe werden in Rustans Traum ausagiert.
Der Schmetterlingstraum
Traumdichtungen und Traumdeutungen gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Für die Antike ist beispielsweise das „Traumbuch“ von Artemidor von Daldis eine wichtige Quelle. Die wohl bekannteste asiatische Traumfabel („Der Schmetterlingstraum“) stammt von Tschuang Tse [Zhuangzi] (4. Jhd. v. Chr.):
“Einst träumte mir, Tschuang Tschou, ich sei ein Schmetterling. Ein schwebender Schmetterling, der sich wohl und wunschlos fühlte und nichts wusste von Tschuang Tschou. Plötzlich erwachte ich und merkte, dass ich wieder Tschuang Tschou war. Nun weiss ich nicht, bin ich Tschuang Tschou, dem träumte, ein Schmetterling zu sein, oder bin ich ein Schmetterling, dem träumt, er sei Tschuang Tschou. Und doch ist sicherlich zwischen Tschuang Tschou und dem Schmetterling ein Unterschied, denn gerade diesen nennen wir ja Wandlung der Substanz zu Einzelwesen.“
In diesem Traum geht es um Identität und Identitätsgewissheit: Träume ich oder werde ich geträumt? Interessanterweise gibt es dazu direkte Anknüpfungsmöglichkeiten an die Philosophie des Rationalismus eines Descartes.
René Descartes stellte im Rahmen seiner Überlegungen zu einer prima philosophia die Frage: Könnte es nicht sein, dass wir alle nur in einem Traum existieren? Weil wir alle den gleichen Traum haben, wird es uns nicht bewusst, dass unser Dasein eine Schimäre ist. Descartes kommt dazu, dass der Zweifel und schliesslich das Bewusstsein des Zweifels (wenn ich zweifle, kann ich nicht daran zweifeln, dass ich zweifle) die Instanzen sind, die uns Gewissheit verschaffen. Das bekannte „Cogito, ergo sum“, ich denke, also bin ich, ist ein Resultat der Reflexionen, die von der Traumvermutung ausgegangen sind.
Descartes’ Traum
Ein viel behandeltes Beispiel eines überlieferten Traumes, den auch Freud interpretiert hat, ist der Traum des Philosophen Descartes (nachzulesen in: Sigmund Freud, Schriften über Träume und Traumdeutungen, Frankfurt/M. 1994, S. 183-190). Es handelt sich dabei um ein Traumgeschehen, bei dem Descartes am Scheideweg seines Lebens steht und er sich entscheiden muss für die Zukunft. Im Traum werden ihm durch symbolisch wirkende Bücher die Wege zur Philosophie gewiesen. Der ganze Traum ist in gleicher Weise eine Rekapitulation wie eine Antizipation seiner Biographie. Schuld- und Versagensgefühle überfallen den Träumenden, Erinnerungen an die Schulzeit werden wach, Affekte und Körperreaktionen werden festgehalten, bis die geheimnisvolle Wegweisung durch die Bücher erfolgt. Der Wunsch Descartes’, den Pfad der Philosophie zu gehen, ist hier zweifelsohne der Vater des (Traum-)Gedankens.
Standardträume
In der „Traumdeutung“ hat Freud drei typische Träume, die häufig vorkommen, beschrieben und dazu die literarischen Beispiele herangezogen: den Verlegenheitstraum der Nacktheit, den Traum vom Tod geliebter Personen und den Prüfungstraum.
Die unterschiedlichsten Menschen träumen, dass sie nur halb angezogen oder nackt in einem öffentlichen Raum, meist auf der Strasse, stehen, jedoch von den anderen nicht beachtet werden. Diese Nichtbeachtung verhindert eine Aufregung oder den Skandal. Dieser Exhibitionstraum ist eine Aktualisierung und Reproduktion der Lust, die als Kind bei natürlicher, untabuisierter und ungezwungener Nacktheit erfahren wurde. Da dies bei Erwachsenen mit Sanktionen bedacht wird, werden diesbezügliche Wünsche nur im Traum zugelassen. Dass in diesen Traumszenen die anderen wie völlig unbeteiligte Dritte und ganz interesselos erscheinen, ist eine listige Entschärfung der Situation durch die Traumzensur.
Das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern oder besonders die Szene bei Homer, in der Odysseus nackt und nur mit Schlamm bedeckt vor Nausikaa und ihre Gespielinnen tritt (auch von Gottfried Keller im „Grünen Heinrich“ thematisiert), sind literarische Beispiele des Verlegenheitstraums der Nacktheit, die Freud so kommentiert: „Hinter den (…) Wünschen des Heimatlosen brechen im Traum die unterdrückten und unerlaubt gewordenen Kinderwünsche hervor, und darum schlägt der Traum, den die Sage von der Nausikaa objektiviert, regelmässig in einen Angsttraum um.“
Der Tötungstraum ist Ausdruck der verdrängten, unbewussten Hoffnung, ein anderer, oft der Bruder oder die Schwester, möge sterben, damit der Träumende wieder im Zentrum steht und alle Liebe auf sich ziehen kann. Tötungsphantasien von Kindern gegenüber Geschwistern spielen nicht mit der Vorstellung einer realen Tötung, sondern mit der Entfernung des anderen für eine gewisse Zeit, sind also keine Endgültigkeit bezweckenden Wunschvorstellungen. Der Ödipus-Stoff ist hier zu erwähnen, erzählt er doch von der unbewussten Tötung des Vaters als Nebenbuhler und von der schliesslichen Vermählung mit der eigenen Mutter.
Der Prüfungstraum drückt Versagensängste aus, insbesondere auch die Angst vor sexuellem Ungenügen. In Grillparzers Erzählung „Der arme Spielmann“ – einer Lieblingslektüre von Kafka – spielen beide Formen eine wichtige Rolle: Die Hauptfigur Jakob versagt bei einer Schulprüfung, wobei ihm das lateinische Wort für „Hohngelächter“ nicht einfällt. Unter diesem wird er später als Strassenmusikant zu leiden haben. Ist Jakob einmal erotisch ausser sich, dann küsst er die geliebte Barbara – durch eine Glasscheibe. Distanzierung und männliche Insuffizienzgefühle charakterisieren den Spielmann, der jedoch lieber von der absoluten Musik träumt.
Ein klassischer Konflikttraum ist der einer Bewegungshemmung: Man will vor etwas fliehen und kommt nicht von der Stelle – der Konflikt ist noch nicht ausgetragen und macht deshalb bewegungslos. Anders der Traum vom Fliegen und vom Sturz (Ikaros-Mythos): Das eine ist ein Befreiungs- oder orgiastischer Traum, der andere ein Angsttraum des Verlustes oder der Abnahme von Lebens- und sexueller Energie.
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Schliesslich ist noch besonders an Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ (1925) zu erinnern, in der die psychische Funktion des Traumlebens durchaus im Sinne Freuds behandelt wird. Ausserdem ist diese Novelle über einen Schlaf- und einen Wachtraum ein Meisterwerk der Seelenanalyse und der Darstellung männlicher und weiblicher Sexualphantasien.
Träume gleichen Ahnungen, sind Warnungen, Vorboten, sind wie Orakel, sie lösen Wandlungen aus oder sind geheime Wunschbilder. Sie zu verstehen, ist ein Weg zu einem vertieften Selbstverständnis. Ein Traum, was sonst?: so ein Dritter zu Prinz Friedrich von Homburg in Kleists Staats- und Künstlerdrama beim Blick auf dessen Geschichte.
Literatur:
„Träume in der Weltliteratur“, hrsg. Manfred Gsteiger, Manesse Verlag, Zürich 1999.
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