Der jüdisch-christliche Dialog in der Schweiz im Spannungsfeld wachsender Antisemitismus-Vorfälle.
Unter dem Titel „Zu Besuch bei…“ veröffentlicht die Redaktion Wissen in loser Folge Gespräche mit Persönlichkeiten, die zu aktuellen Themen und Ereignissen Stellung nehmen. Den Anfang macht Dr. Walter Weibel, der sich um den jüdisch-christlichen Dialog in der Schweiz verdient gemacht hat. Aktueller Anlass ist die vor 50 Jahren durch das 2. Vatikanische Konzil verabschiedete Konzilserklärung „Nostra Aetate. Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“. Mit Walter Weibel sprach unser Redaktionsmitglied Joseph Auchter:
Joseph Auchter: Herr Weibel, Sie haben 2013 eine viel beachtete Dissertation an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern verfasst mit dem Titel: „In Begegnung lernen. Der jüdisch-christliche Dialog in der Erziehung“. Was hat Sie dazu veranlasst?
Walter Weibel: Nach meiner Pensionierung hatte ich mich an der Universität Luzern für ein Studium eingeschrieben. Aus ganz verschiedenen Gründen wählte ich Theologie in der Absicht, wenn möglich das Masterstudium abzuschliessen, um hernach ehrenamtlich in der Altersseelsorge meiner Pfarrei St. Pankratius in Hitzkirch/LU tätig zu sein. Aber dass ich nochmals eine Dissertation schreiben würde, verdanke ich nur meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Verena Lenzen, die mich überzeugen konnte, den jüdisch-christlichen Dialog unter dem Aspekt der Begegnung in der Erziehung darzustellen.
Grosses Anliegen, eigenes Wissen zu vermitteln
Ihre wissenschaftliche Arbeit hat auch in jüdischen Kreisen Echo ausgelöst. Was sind die Beweggründe?
Die Dissertation erhielt den erstmals verliehenen Preis der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft Bern. Daraufhin erhielt ich viele Anfragen für Interviews und für Referate und Weiterbildungsveranstaltungen. Es ist mir ein grosses Anliegen, mein Wissen über Religion und Kultur des Judentums und der jüdischen Wurzeln des Christentums zu vermitteln. Wenn es gelingt, ein Grundwissen über das Judentum zu vermitteln, dann werden die auch bei uns Jahrhunderte alten Vorurteile abgebaut können, davon bin ich überzeugt. Es ist auch möglich, die christliche Religion besser zu verstehen, wenn wir wissen, aus welchen Wurzeln sie besteht. Papst Johannes Paul II. sagte:“Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas Äusserliches, sondern gehört in gewisser Weise zum Inneren unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermassen sagen, unsere älteren Brüder.“
Ist Ihr Bekenntnis zum Dialog damit gar etwas zum Hoffnungsträger geworden?
Nein, das wäre eine absolut übertriebene Erwartung. Der jüdisch-christliche Dialog ist gar nicht alt. Die Annäherung des Christentums an das Judentum begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Verfolgung und die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch den Nationalsozialismus hat dazu geführt, über die Ursachen der Schuld an der Ermordung nachzudenken. 1947 fand in Seelisberg eine internationale Konferenz von Christen und Juden statt. Die dort verabschiedeten zehn Thesen lösten einen wesentlichen Impuls aus, so dass sich das Zweite Vatikanische Konzil intensiv mit dem Judentum auseinandersetzte. Der vierte Abschnitt der Konzilserklärung „Nostra Aetate“leitete eine revolutionäre Wende in der Beziehung Judentum-Christentum aus. Zum ersten Mal bekannte sich die katholische Kirche zu den jüdischen Wurzeln, verurteilte jede Form von Antijudaismus und Antisemitismus und forderte zu gegenseitigen Achtung wie zum geschwisterlichen Gespräch auf. Seit drei Jahren wird in der katholischen Kirche der Schweiz der Tag des Judentums begangen.
Ganz bedeutend sind in der Schweiz wie in unseren deutschsprachigen Nachbarländern die christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaften, die in der Schweiz bereits 1946 in verschiedenen Regionen gegründet wurden. Der jüdische Kulturweg von Lengnau und Endingen im Kanton Aargau, der vor einigen Jahren errichtet wurde, führt an den beiden Synagogen, am grössten jüdischen Friedhof der Schweiz und an zahlreichen jüdischen Wohnhäusern vorbei. In Basel besteht das einzige jüdische Museum der Schweiz, das u.a. auch verschiedene Gegenstände der Aargauer Judendörfer zeigt.
Symposium über interreligiöse Begegnung
Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Konzilserklärung „Nostra Aetate“gedenkt dieses Jahr am 4. Mai auch ein Symposium in Luzern der vatikanischen Wegmarke: Wer steht dahinter, was ist der Brennpunkt?
Das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern veranstaltet dieses Symposium. Bereits seit 1971 wird in Luzern Judaistik als universitäres Fach geführt, und 1976 wurde das Institut gegründet.
Das Symposium hat zwei Motive der Durchführung. Einmal sind es die 50 Jahre seit der Konzilserklärung, und vor 25 Jahren wurde die Jüdisch/Römisch-katholische Gesprächskommission in der Schweiz gegründet, gefördert durch das Mentorat der Schweizerischen Bischofskonferenz und des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes. Das Symposium ist öffentlich und behandelt in einer umfassenden Rückschau, wie sich der jüdisch-christliche Dialog in der Schweiz entwickelt hat. Im zweiten Teil des Symposiums geht es um die interreligiöse Begegnung in Israel und Palästina.
An der Delegiertenversammlung des israelitischen Gemeindebundes wird am 13. Mai das Thema des interreligiösen Dialogs fortgesetzt. An einem Podiumsgespräch nehmen Kurienkardinal Kurt Koch als Präsident der päpstlichen Kommission für die religiöse Beziehungen des Judentums, und Rabbiner David Rosen, Ehrenpräsident des Internationalen Rates der Christen und Juden, teil.
Markante Zunahme von Antisemitismus-Vorfällen
Jüngste Anschläge in Europa haben Israels Ministerpräsidenten Netanyahu veranlasst, die Juden aufzurufen, nach Israel zu übersiedeln. Ein höheres Schutzbedürfnis manifestiert sich auch in der Schweiz. Inwiefern verunsichert die politische Radikalisierung auf beiden Seiten den christlich-jüdischen Dialog?
Die markante Zunahme von Vorfällen von Antisemitismus im letzten Jahr beunruhigen auch die jüdischen Gemeinden in der Schweiz sehr stark. Es sind doppelt so viele Vorfälle 2014 verglichen zum Vorjahr verzeichnet worden. Die Palette umfasst nicht nur Obszönitäten wie ein nahe einer Synagoge aufgemaltes Hakenkreuz, sondern auch Äusserungen zum israelischen Verhalten gegenüber den Palästinensern bis hin zu Drohungen und Anfeindungen mit Briefen, Telefonen, E-Mails usw. gegenüber jüdischen Persönlichkeiten in unserem Land. Was aber noch viel schlimmer ist, ist die Gefährdung der jüdischen Mitmenschen in unserem Land und ihrer Heimstätten. Die Angriffe in den Nachbarländern verunsichern. Es besteht ein latentes Sicherheitsproblem in unserem Land, das die Behörden wohl noch gar nicht richtig wahrgenommen haben. Diese Bedrohung löst Angst aus. Der jüdische-christliche Dialog ist nicht in Frage gestellt, im Gegenteil. Die Solidarisierung wächst.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass der Dialog konstruktiv fortgesetzt wird?
Der Schweizer Jesuitenpater Dr. Christian Rutishauser, einer der besten Kenner des jüdisch-christlichen Dialogs, sagte vor kurzem in einem Interview „Eine Religion der Zukunft muss fähig sein, sich auf einen Dialog mit anderen Religionen, mit der Wissenschaft und der ganzen Wirklichkeit einzulassen. Lernfähigkeit und Bildung sind entscheidend. Sie orientiert sich am Menschen und am Gesamtwohl.“Diese Hoffnung habe ich, und daran werde ich auch in Zukunft arbeiten.
Ich bedanke mich bei Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person:
Dr. Walter Weibel hat Pädagogik und Geschichte studiert und mit einer Arbeit über Unterrichtsbeurteilung an der Universität Freiburg doktoriert. Er war viele Jahre in der Luzerner Lehrerbildung tätig. Für den Kanton Aargau baute er im Bildungsdepartement eine Pädagogische Arbeitsstelle auf und war am Schluss seines Berufslebens als Regionalsekretär der Nordwestschweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz tätig. Nach seiner Pensionierung studierte er an der Universität Luzern Theologie und schloss sein Studium 2012 mit einer Dissertation im Fachbereich Judaistik ab. In dieser Arbeit mit dem Titel „In Begegnung lernen“ (LIT Verlag Münster/Zürich 2013), für die er den erstmals verliehenen Preis der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft, Sektion Bern erhielt, ging Weibel der Bedeutung des interreligiösen Dialogs in der Erziehung nach. Weibel ist seit 2011 ehrenamtlich als Altersheimseelsorger am regionalen Altersheim „Chrüzmatt“ in Hitzkirch tätig.