StartseiteMagazinGesellschaftPetersburg – das Fenster zu Europa

Petersburg – das Fenster zu Europa

Eine Reise zu den Kulturschätzen in Palästen und Kirchen in der schönsten Stadt Russlands, heute mit einer europakritischen Bevölkerung.

Unsere Reise nach Sankt Petersburg gleicht dem Streicheln eines Bären: Wir bewundern den Kerl, versuchen mit ihm zu reden, verstehen seine Sprache nicht, und er schnappt verletzt zurück.

Peter der Grosse wollte mit Sankt Petersburg ein Fenster zu Europa bauen. Heute wehrt sich die Bevölkerung gegen den Einfluss aus dem Westen und träumt vom alten Sowjetreich, von einer Weltmacht.

Starke Führungspersönlichkeiten sind gefragt

Peter der Grosse plante 1703 an der Ostsee eine Hafenstadt mit Industrieanlagen in einer öden Sumpflandschaft und baute Sankt Petersburg unter Zwangsrekrutierung von 40‘000 Leibeigenen. Zehntausende starben an Krankheiten oder an Hunger. Wohnen wollte hier kaum jemand. Die Besiedlung wurde der Moskauer Elite durch den Zaren befohlen.

Heute zählt Sankt Petersburg 5 Mio. Menschen, gehört zu den schönsten Städten der Welt, wird mit Venedig verglichen, mit den Flüssen und Kanälen, mit den 42 Inseln, mit seinen Schlössern und den einzigartigen Kunstsammlungen.

Der Winterpalast des Eremitage

Das russische Volk schätzt starke Führerpersönlichkeiten. Die Bevölkerung stehe zu 90 % hinter Präsident Putin und zu seiner Politik, sagt Elena, unsere russische Reiseleiterin, die uns mit Chauffeur Alexij während einer Woche begleitet. Heroisch würden die wirtschaftlichen Sanktionen in Kauf genommen. Viel Geld fliesse heute in die Krim. Man müsse den Brüdern auf der Krim helfen. Die Krim habe schon immer zu Russland gehört. Schliesslich habe Deutschland die DDR auch annektiert.

Wir suchen ein Fester zu Russland

Unsere Gruppe reist mit dem bequemen Tagesflug der Swiss von Zürich in den Flughafen Pulkovo, ein kühner Neubau mit luftigen Glasfirsten, der am 1. Dezember 2013 eröffnet wurde. Da ist erstaunlich wenig Flugverkehr. In der Umgebung des Flughafens sind grössere Industrie- und Wohnzentren im Bau.

Während der 14 km langen Fahrt ins Stadtzentrum wechselt die Szenerie von den Birken, welche die Strasse umsäumen, zu den klassizistischen Häuserzeilen. Über dem Stadtzentrum strahlen die goldene Kuppel der Isaakskathedrale, die Zwiebeltürme der Erlöserkirche und die 122,5 m hohe goldene Nadel des Glockenturms der Peter-Paul-Festung. Bunte Hausfassaden in der Stadt und eine üppige Beleuchtung schaffen auch in den dunkeln Wintermonaten Heiterkeit und Lebensfreude.

Eine Reise in die feudale Vergangenheit

Eremitage – Raphael-Loggia

Im November fehlen die Warteschlangen vor den Palästen. Danke Elenas umsichtiger Führung kommen wir ohne Wartezeit ins Eremitage.

Die barocke Pracht des Winterpalastes übersteigt jede Vorstellungskraft: mit Samt und Seide bespannte, mit Silber bestickte Wände mit den reichen Goldverzierungen, goldene Kronleuchter, deren Lichter sich in Fenstern und Spiegeln vervielfachen, Parkettböden mit Intarsien aus 16 Hölzern und der Stuck und Bilder von Allegorien an den Decken. Die aufeinander abgestimmten Dekorationen wirken vollkommen.

Drei Millionen Kunstobjekte umfasst die Eremitage. Der Winterpalast zählt 1000 Räume und  117 Treppen, 88 km Weg bräuchten wir für die Besichtigung der ganzen Eremitage. An diesem Morgen laufen wir 4 bis 5 km durch Treppenhäuser und Säle, vorbei an Gemälden und Statuen alter Meister. Eines der prächtigsten Bilder ist die Danaë von Rembrandt, 1636 gemalt. Beim Bild „Adam und Eva“ von Hendrick Goltzius meint eine Russin lakonisch: „Die beiden stammen sichtlich aus Russland, sie haben nichts anzuziehen, müssen sich zu zweit einen Apfel teilen und wähnen sich im Paradies.“

 

Eremitage – der Wappensaal

Den Winterpalast der Eremitage, eines der Prunkstücke des russischen Barock, hat Bartolomeo Francesco Rastrelli gestaltet. Rastrelli ist ein russischer Architekt italienischer Herkunft. Als Hofarchitekt von Zarin Elisabeth I beteiligte er sich massgeblich am Aufbau von Sankt Petersburg, baute auch den Katharinenpalast mit dem Bernsteinzimmer, den Grossen Palast vom Peterhof, das Smolny-Kloster mit der Fünfkuppel-Kirche und weitere Barockwerke in Sankt Petersburg.

In allen diesen Bauwerken finden sich Fotografien von Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg. Petersburg wurde während 871 Tagen von den Nazis belagert, Kunst wurde geraubt und Gebäude zerstört. Die vielen Werke, die Sankt Petersburg restauriert hat, verdienen grosse Bewunderung. Von einer Oktoberrevolution ist da nichts mehr zu spüren.

Erstklassige Aufführungen von Ballett und Opern

Mariinsky-Theater Zuschauerraum

Zu einer Kulturreise in Sankt Petersburg gehören Ballett und Oper. Im Mikhailovsky- und im Mariinsky-Theater bezaubern die prunkvollen Säle, üppig mit Gold ausgestattet. Allein die aufwändig bestickten Vorhänge sind ein Gedicht. Wir sehen den Ballettklassiker „Don Quichote“, die Puschkin-Oper „Pique Dame“ und das „Dornröschen“-Ballett von Tschaikowski, Verdis für Sankt Petersburg komponierte Oper „La Forza del Destino“, den „Fürst Igor“ von Borodin und auf der Bühne des neuen Mariinsky II das Ballett „Schwanensee“.

Eingang zum 2013 eröffneten Theatersaal Mariinsky II mit Golddekor und Swarovsky-Kristallen

Alle diese Werke wurden in Russland uraufgeführt, fünf zwischen 1862 und 1890 in Sankt Petersburg, der „Don Quichotte“ 1869 im Bolschoi-Theater in Moskau. Opern und Operetten werden auf hohem Niveau gespielt, mit Bühnenbild und Kleidern prunkvoll gestaltet, „La Forza del Destino“ heute mit dem Bühnenbild wie 1862. Die Häuser sind die ganze Woche durch voll besetzt. Aufgefallen sind die jungen Leute in der Oper und im Ballett die Kinder, die in den Pausen in den Gängen eigene Tanzschritte übten.

Leider können wir uns wegen der Sprachbarriere nicht informieren über das Programm und über die einzelnen Künstler. Im Folkloreabend „Feel yourself Russian“ hingegen erkennt meine Freundin einen Sänger aus dem „Peters Quartett“, der am Zürichsee auf Tournee war und ein wenig Schweizerdeutsch versteht.

Die neue Wertung der Religion

Sankt Petersburg zählt über 100 Kirchen, darunter auch zwei Synagogen, eine Moschee und einen buddhistischer Tempel. Im Hotel Angleterre wohnen wir direkt neben der Isaakskathedrale. Sie ist die grösste Kirche der Stadt und steht auf 11‘000 in den Boden gepfählten Baumstämmen. Darauf stehen 48 je 17 m hohe Malachitsäulen, die mit Seilzügen und einem raffinierten Kugellagersystem aufgebaut wurden. Mehr als 10‘000 Menschen finden in der Kirche Platz. Die drei Architekten Rinaldi, Brenna und Montferrand haben während 40 Jahren an dieser Kirche gearbeitet. 1930 wurde die Kathedrale wegen Feuchtigkeitsschäden geschlossen. In der Sowjetzeit diente sie als Lagerraum. Ab 1990 wird hier wieder russisch-orthodoxer Gottesdienst gefeiert.

Ikonenwand in der Marine-Kathedrale des Heiligen Nikolaus in Kronstadt

Heute arbeiten der Staat und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche zusammen. Seit zwei Jahren wird in den Schulen auf freiwilliger Basis Religionsunterricht angeboten. Die Religion entspreche einem Bedürfnis der Menschen. Zudem würde sie dem die Gesellschaft zersetzenden westlichen Einfluss Widerstand bieten (namentlich genannt werden die Homosexualität und der amerikanische Einfluss).

Absturz von Airbus A 321 im Sinai

Trauerkundgebungen auf dem Palastplatz

Am letzten Oktobersamstag wundern wir uns bei beginnender Dämmerung über unregelmässige, dumpfe Schläge einer Glocke aus der Isaakskathedrale. Bald sickert die Meldung durch, ein Airbus A 321 sei auf der Route von Sharm el-Sheikh nach Sankt Petersburg über dem Sinai abgestürzt.  224 Tote seien zu beklagen, die meisten aus einem Quartier in Sankt Petersburg. Ein Schock legt sich über die Stadt. Das rote Meer ist eine beliebte Feriendestination für Familien mit Kindern. Die Menschen trauern, legen an der Alexandersäule vor dem Eremitage Blumen und Spielzeug nieder. Die Fahnen stehen auf Halbmast. Staatstrauer bis 4. November wird angeordnet. Auf dem Palastpatz werde ein Memorial geplant und der Staat werde den Familien eine Entschädigung von 1‘000‘000 Rubel für jeden Toten ausrichten, erklärt die Regierung. Schuldzuweisungen gibt es keine. Bei den Besuchen von Kirchen und Kathedralen geraten wir in Totenmessen.

Eine Reise an die Ostsee

Von den 35 Sonnentagen, die Sankt Petersburg jährlich erwartet, sind in diesem Jahr drei auf die erste Novemberwoche gefallen, mit Temperaturen zwischen 4 und 9 °C. So fahren wir bei schönstem Sonnenschein, nicht mit dem sagenhaften Petersburger Schlitten, aber vergnügt mit Alexij und seinem Car an den Finnischen Meerbusen, zur Villa Penaten in Repino, dem Wohnhaus von Maler Ilja Repin und auf die Festungsinsel Kronstadt.

Villa Penaton in Repino, Wohn- und Arbeitsort von Ilja Repin

Ilja Repin gilt als der Tolstoi der russischen Malerei. Vor der Oktoberrevolution gehörte er zum Zentrum russischer Künstler. Seine Werke, Ikonen, Portraits und Gesellschaftsszenarien zu sozialen Missständen in Russland, können im Russischen Museum in Sankt Petersburg bewundert werden. Repin pflegte um die vorletzte Jahrhundertwende einen alternativen Lebensstil, er lebte vegetarisch und verordnete seinen zahlreichen Gästen seine eigene Esskultur.

60 km entlang des Finnischen Meerbusens läuft die Karelische Landenge, die von Kiefern, Tannen, Ebereschen und Birken umsäumt wird. Hier gab es während der Sowjetzeit 38 Sanatorien. Nach 1990 wurde das Land zu Gunsten von Datschas privatisiert. Heute besitzt jede dritte Petersburger Familie eine Datscha, verbringt hier die Freizeit und die Ferien, um der Enge der Stadt zu entfliehen.

Strand am Finnischen Meerbusen im November

Erst seit kurzer Zeit für Touristen offen ist die Festungsinsel Kronstadt. Ab Kronstadt starteten im 18./19. Jahrhundert die ersten russischen Weltumsegelungen. Zur Insel gehören 21 Festungsanlagen und eine unterirdische Stadt. Bis 1996 war Kronstadt militärisches Sperrgebiet. Heute verbinden die Insel ein 200 m langer Tunnel und eine Brücke mit dem Festland. Mit ihrer Altstadt und dem nach dem Vorbild der Hagia Sophia erbauten Marine-Dom gehört die Insel heute zum UNSECO-Welterbe.

Leben in Sankt Petersburg

In Sankt Petersburg herrscht Wohnungsnot. Immer noch hausen über 500‘000 Familien in kommunalen Wohnungen, mit einem Zimmer pro Familie und Gemeinschaftsküche und Toilette für 10 bis 15 Partien. Als Grundfläche für eine Wohnung werden heute 6 m2 pro Person oder 24 m2 für eine Familie mit 2 Kindern genannt.

Russische Familien leisten sich heute nur noch ein Kind. Verdient werden monatlich 4000 bis 4500 Rubel (1000 Rubel entsprechen rund 16 Euro). Eine Wohnung kostet mindestens 1 Mio. Rubel. Die Arbeitslosigkeit beträgt in Sankt Petersburg 10 %, in ganz Russland 15 bis 16 %. Gearbeitet wird 41 Stunden pro Woche, allgemein von 9 bis 18 Uhr. In Pension geht man mit 54 bis 60 Jahren. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt für Männer 59, für Frauen 72 Jahre. Eine Altersrente beträgt rund 1600 Rubel. Die Familien unterstützen sich. Die wirtschaftlichen Sanktionen verteuerten die Lebenshaltungskosten um rund 10 % (die Angaben basieren auf Gesprächen mit Russen aus Sankt Petersburg).

Russland verstehen

Mit dem Buch „Secondhand-Zeit -­ Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ beschreibt die weissrussische Autorin die Gefühle von Menschen aus der Sowjetunion nach der Wende. Die Reporterin spricht mit Frauen, die in der Roten Armee gekämpft haben, mit Soldaten, Gulag-Häftlingen, Stalinisten, mit Menschen, die sich seit 1989 von der Geschichte überrollt, gedemütigt und betrogen fühlen. Wie kommt es, dass die sozialistische Vergangenheit und Stalin als Staatsmann vor allem von jungen Menschen wieder nostalgisch verklärt werden? Wer Russland verstehen möchte, findet in diesem Buch Antworten.

Swetlana Alexijewitsch hat den Friedensnobelpreis 2015 erhalten. In Russland ist das Buch leider nicht erhältlich.

Sankt Petersburg (wikipedia)

Kronstadt – vom Marinestützpunkt zur Touristenattraktion

„Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“
von Swetlana Alexijewitsch
8.02.2015, TB Suhrkamp-Verlag

Eindrücke aus einer Theaterclub-Kulturreise.
Bild Lead: Kuppel der Isaakskathedrale.
Bilder Franz Poltera.

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