1918 wurde in Luzern die „Schweizerische Sozial-Caritative Frauenschule“ als erste Schule für Sozialarbeit gegründet. Mit Dorothee Guggisberg trägt wieder eine Frau Verantwortung.
Seniorweb-Interview mit Dorothee Guggisberg, Direktorin der Hochschule Luzern-Soziale Arbeit.
Judith Stamm: 2016 traten Sie an als Direktorin. 2018 feiern Sie mit verschiedenen Ereignissen das hundertjährige Bestehen der Institution, der Sie vorstehen. Bedeuten diese hundert Jahre Geschichte Bereicherung oder Belastung?
Dorothee Guggisberg: Es handelt sich um eine hundertjährige Erfolgsgeschichte! Dabei sind Bildungsgeschichte, Geschlechtergeschichte und Sozialgeschichte untrennbar miteinander verbunden. Frauen waren zur Zeit der Gründung der „Sozial-Caritativen Frauenschule“ von Bildung weitgehend ausgeschlossen. Sie haben sich mit dieser Schule Zugang zu Bildung verschafft. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts war es eine Schule nur für Frauen und sie wurde auch von Frauen geleitet. Durch den Einsatz für die Schule haben sich die beteiligten Frauen auch persönlich weiter entwickelt.
In den 1960er Jahren öffnete sich die Schule auch für Männer. Ab 1967 übernahmen Männer die Leitung bis 2016.
Die Geschichte der Schule deckt sich im Wesentlichen auch mit der Geschichte des Sozialstaates. Denken wir nur an die Errungenschaften der Sozialversicherungen: AHV (1948), IV (1960), EL (1965), ALV (1976).
Und in derselben „kurzen“ Zeit von hundert Jahren wurde aus der Ausbildung in Sozialer Arbeit, die ursprünglich ehrenamtlich ausgeübt wurde, eine Hochschuldisziplin. Das ist eine eindrückliche Entwicklung!
Judith Stamm im Gespräch mit Dorothee Guggisberg
Ihre Institution hat sich von einer Schule zu einem Teilbereich der Hochschule gewandelt. Was sind die Aufnahmebedingungen? Und sind Akademikerinnen, Akademiker, geeignet für die praktische Sozialarbeit direkt bei den Klienten und Klientinnen?
Voraussetzungen zum Studium sind bei uns mindestens ein Jahr Erfahrung im Erwerbsleben und ein anerkannter Bildungsabschluss. Das kann eine Berufsmatura, eine Fachmatura, eine gymnasiale Matura oder ein Diplom einer Höheren Fachschule sein.
Dorothee Guggisberg in der Mediathek
Die Realität, mit der sich unsere Absolventinnen und Absolventen in ihrer beruflichen Tätigkeit befassen werden, ist komplexer, als sie vor hundert Jahren war. Da ist zunächst viel Wissen gefragt, aber auch die Fähigkeit zur Analyse von Situationen und zur Entwicklung von Problemlösungen, z.B. als Entscheidungsgrundlagen für Behörden, und diese müssen auch überzeugend präsentiert werden können.
Nicht vergessen werden darf, dass wir eine Fachhochschule sind. Wir sind von Gesetzes wegen in Lehre und Forschung tätig und wir sind praxisorientiert. Der Mensch steht bei uns immer im Zentrum!
Sie haben einen breiten Erfahrungshorizont. Ergeben sich daraus Schwerpunkte für Ihre Führungsarbeit?
Meine Erfahrungen in verschiedenen Feldern der Sozialarbeit fliessen in meine aktuelle Aufgabe ein. Ich kenne sowohl die Herausforderungen der praktischen Arbeit als auch diejenigen der sozialpolitischen Ebene.
Meine zentrale Aufgabe ist heute das Management der Hochschule. Ich freue mich sehr, dass mir als ausgebildeter Sozialarbeiterin diese Verantwortung übertragen wurde.
Ich habe für gute Rahmenbedingungen zu sorgen. Zusammen mit meinen Mitarbeitenden versuche ich, mit unseren beschränkten Ressourcen optimale Lösungen zu finden.
Durch gute Lehre und Forschung leisten wir einen zentralen Beitrag zu einem wirksamen Sozialwesen. Und unsere kompetenten Berufsleute übernehmen verantwortungsvolle Funktionen in ihrer Arbeit mit Menschen, aber auch gegenüber den Gemeinwesen.
Zentral ist für mich eine gute Zusammenarbeit im engsten Kreis, mit anderen Bereichen unserer Hochschule und mit anderen Hochschulen für Soziale Arbeit schweizweit. Der gegenseitige Austausch regt an und bringt uns weiter.
Und, das darf ja nicht vergessen werden, ein wichtiges Thema ist auch für uns die fortschreitende Digitalisierung. Wie wirkt sie sich aus auf die Praxis, auf die Lehre, auf die Methoden?
Die fortschreitende Digitalisierung findet auch im Eingangsbereich statt
Sozialarbeitende werden vielfach dort eingesetzt, wo sich im gesellschaftlichen Zusammenleben Konflikte ergeben. Geht es nur darum, die Konflikte im aktuellen Fall zu entschärfen? Oder geht es auch um die Behebung der Konfliktursachen?
Sozialarbeitende nehmen Aufgaben wahr mit klarem Pflichtenheft und klaren Rahmenbedingungen (Auftrag, Finanzierung, institutioneller Rahmen). Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld. Sie wollen den Interessen ihrer Klientinnen und Klienten genügen. Sie müssen aber auch den institutionellen bzw gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden, entsprechen. Gerade für junge Menschen kann das herausfordernd sein. Sie müssen lernen, gleichsam mit einem doppelten Mandat umzugehen. Das ist eine grosse Anforderung, macht den Beruf aber auch spannend.
In der Schweiz als direkter Demokratie spielen politische Prozesse eine wichtige Rolle. Wie steht die Soziale Arbeit zu diesen Prozessen?
Die Soziale Arbeit handelt immer in einem gesetzlichen Rahmen. Daher sind gesetzliche Grundlagen immer richtungweisend.
In unserem System können wir aber die Prozesse, die zu diesen gesetzlichen Grundlagen führen, auch beeinflussen. Wir können empirische Grundlagenarbeit, Faktenkenntnisse und Erfahrungswissen einbringen. Dafür eignen sich die Vernehmlassungsverfahren, die in unserem Land im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten durchgeführt werden. Zu diesen werden unsere Fachverbände der Sozialen Arbeit eingeladen. Und wir werden mit unseren Beiträgen auch gehört!
Das letzte Jahrhundert war ja auch das Jahrhundert der Emanzipation der Frau. Spiegelt sich das auch in der Sozialen Arbeit?
Drei Viertel unserer Studierenden sind auch heute noch Frauen. Wir öffnen das Feld, aber noch sind die Männer in der Minderzahl.
Wenn ich aber die Bemühungen im Rahmen der technischen und naturwissenschaftlichen Berufe betrachte, so bietet sich mir dasselbe Bild. Auch da werden die Tore geöffnet. Und auch die Frauen etablieren sich nur langsam in dieser Männerwelt.
Gerechtigkeit, Chancengleichheit sind Fundamente der Sozialen Arbeit. Es ist naheliegend, dass die vielen in diesem Berufsfeld engagierten Frauen auch die Frauenemanzipation institutionell vorwärts getrieben haben. Ich denke da an die Frauenberatungsstellen, Frauengesundheitszentren, Notrufe für Frauen, Frauenhäuser und vieles mehr.
Nicht übersehen werden darf, dass heute eine Vielzahl von Frauen bereit sind, Verantwortung in leitenden Positionen, als Dozierende, als Projektleiterinnen in Forschungsvorhaben, zu übernehmen.
Wir können die Entwicklung der Sozialen Arbeit anhand des praktischen Beispieles der Geschichte der „Schweizerischen Sozial-Caritativen Frauenschule“ betrachten. Und wir stossen auf eine Fülle von Anschauungsmaterial, wie sich unsere schweizerische Gesellschaft, und mit ihr auch die Stellung der Frau, im Laufe von hundert Jahren verändert haben. Beeindruckend!
In unserem Jubiläumsbuch: „Soziale Arbeit bewegt, stützt, begleitet“, haben wir versucht, diese Entfaltung sichtbar zu machen.
Frau Guggisberg, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Bilder: Josef Ritler
Pia Gabriel-Schärer/Beat Schmocker (HRSG.):
„Soziale Arbeit bewegt, stützt, begleitet“, 2018 Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
ISBN 978-3-906036-28-1