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Es begab sich aber…

Warum uns die Weihnachtsgeschichte noch immer packt – Nachdenken vor der Heiligen Nacht

„Was kommt dir in den Sinn, wenn du an Weihnachten denkst“, frage ich meinen Freund. Er antwortete spontan: „Die ersten Sätze der Weihnachtsgeschichte: Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. So erzählt sie uns der Evangelist Lukas. Ein junges Paar, die Frau hochschwanger, eine göttliche Verheißung, aber kein Platz in der Herberge. Nach zwei Jahrtausenden bewegt die Episode nach wie vor.“

Wir wanderten dem See entlang von Arbon zurück nach Rorschach. Es war später Nachmittag. Die ersten Lichter wurden entzündet. Es lag ein Hauch von frischem Schnee – die Stimmung war friedlich. „Du hast Recht,“ bestätige ich, „auch bei mir klingt es nach wie ein altes Lied. Not und Ausweglosigkeit, Aufbruch und Abweisung, das sind die Motive vieler grosser Erzählungen. Und ja, Flucht und Vertreibung bleiben Grundmotive der menschlichen Existenz – auch heute, angesichts von Millionen Geflüchteter aus dem Orient, in der ja Lukas’ Erzählung spielt.“

Enten auf dem Bodensee. Foto: Dominic Venezia Wikimedia commons

Unterdessen waren wir in Steinach angekommen. Auf den Sandbänken Tausende von Wintergästen. Schwäne, Enten, Brachvögel und Blässhühner, die am See Ruhe und Nahrung finden. Ein mildes Winterquartier mit reich gedecktem Futtertisch. Wir blieben stehen und sahen den schwarzen Perlenschnüren von Vogelleibern im grauweissen Wasser zu.

Ich kenne meinem Freund als religiös interessierten Christen, der in Distanz zur Kirche steht, aber auf der Suche nach einem Bild von Gott, das in dieser Welt bestehen kann. Er beschäftigt sich mit religiösen Themen, etwa mit den Grundfragen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn des Lebens?

Er fährt fort: “Es ist eine richtig gute Story. Menschen lieben Geschichten. Das packt Kinder wie Erwachsene. Einen nachdenklichen Erwachsenen anders als ein Kind, dem am meisten das hilflose Kleinkind in seiner Armut leid tut. Die strapaziöse Geburt, die Flucht nach Ägypten und der Kindermord , das könnte durchaus die Geschichte einer flüchtenden Familie aus Syrien sein“, nimmt er den Gedanken wieder auf. „Ich möchte unser Gespräch auf die Bedeutung der Geburt von Jesus lenken. Mit dem Kind in der Krippe kommt jener Mensch zur Welt, welcher für Menschenrechte kämpfen wird.»

Filippo Lippi: Anbetung im Walde. Detail. ca. 1459

„Eine Botschaft von Weihnachten ist die Hoffnung auf eine friedlichere Welt,» fahre ich fort, «Jesus würde sich heute gegen egoistische Diktatoren und rücksichtslosen Populismus engagieren. Populisten sind Vereinfacher. Sie spitzen Probleme zu und verkaufen einfache Lösungen. Dazu brauchen sie einen Feind, der an allem schuld ist. Es gibt heute eine Rücksichtslosigkeit, welche das Wertvollste zersetzt, das eine Rechtsordnung ausmacht, ihre ethischen Werte, ihre Solidarität und den Schutz des Einzelnen.

Nun waren wir in der Bucht von Rorschach. Das Halbrund des Sees mit den vielen Lichtern nahm uns gefangen. „So eine Ruhe und Harmonie – dieses Bild steht im Gegensatz zur geschäftigen Stadt, kurz vor dem Heiligen Abend,“ sage ich nachdenklich.

„Ja“, stimmt er zu. „Es hilft uns, wenn wir dann und wann in ein anderes Betriebsystem wechseln. Neben dem rationalen Analysieren und Denken und Planen haben wir noch einen anderen Modus. Den nennen wir mythologisches Erleben. Die Wahrheit der Weihnachtsgeschichte besteht nicht darin, ob es genau so war – entscheidend ist ihre Botschaft.“

Filippo Lippi: Geburt Christi mit Anbetung der Hirten, 1469. Apsisfresko. Kathedrale von Spoleto. Foto: Justin Koller

Das könnte ein Schlüssel sein, meine eigene Verwirrung aufzulösen. Wir können Jesus nicht mehr so einfach als Christkönig sehen. Er ist zu unserem Bruder geworden. Zu einem Vorbild für uns. Wir sind auf der Suche nach einem neuen Bild. Und so wie mir, überlege ich, geht es doch vielen Christen, welche nach der Bedeutung Jesu in ihrem Leben fragen. „Ich möchte dir das an einem Gemälde anschaulich machen, das wir beide kennen. Erinnerst du dich an unsere Weitwanderung in Mittelitalien? Wir fanden im Dom von Spoleto in Umbrien die wunderschöne Geburtsszene von Filippo Lippi – einem Maler im Übergang vom Hochmittelalter zur Neuzeit.

Vermutlich jedem Betrachter fallen zuerst Ochs und Esel auf. Zwei vernunftlose Tiere werden Zeugen. Erstaunt über die Ereignisse in ihrem Stall finden sie sich auf den besten Plätzen wieder. Die Botschaft ist: Dieses Kind, für den Evangelisten durch Weissagungen aus dem alten Testament vorherbestimmt, dieses schutzlose Kind wird zum Erlöser werden. Geboren in einem armseligen Stall und nicht in einem Palast, wie es ihm zustünde“. Wir rätselten, was der Maler uns damit mitteilen möchte. Dass es ein Wunder war, ein von Gott bewirktes, war für den Evangelisten klar, kamen wir überein. Und ein Wunder bleibt es auch, Gott ist Mensch geworden.

Dann erst fällt der Blick auf das Kind. Man spürt, wie es friert. Hineingeworfen in die Welt, ungeschützt. Man möchte es in die Arme nehmen und wärmen. Es ist belanglos, ob es genau so war. Es geht um den Mythos. Er vereinigt die menschliche und die göttliche Dimension. Erzeugt eine Atmosphäre von unmittelbarem Dabeisein.

Filippo Lippi: Verkündigung. Detail, 1469. Fresko im Dom von Spoleto

Das Bild erzählt, wie die Beteiligten der Szene reagieren. Maria wurde vom Engel eine Prophezeiung auf den Weg gegeben. Sie kennt ihre Bestimmung und hat ihre Bedeutung im Heilsplan Gottes angenommen. Wenn man Josef betrachtet, kommt es einem vor, als müsse er noch in seine Rolle hineinwachsen. Doch kennen wir das nicht? Wer bekommt schon Zeichen, fragten wir uns. So sitzt er da, stützt sich auf seinen Stab und versucht zu begreifen. Überwältigt von diesem Ereignis und fragend: Was werden wir mit diesem Kind erleben, wozu ist es bestimmt? Doch ihm erscheint wenige Tage später im Traum ebenfalls ein Engel. Er fordert ihn auf, mit seiner kleinen Familie nach Ägypten zu fliehen. Keine einfache Aufgabe. Doch Josef packt sie, rettet das Kind und schützt seine Mutter.

Filippo Lippi: Geburt Christi. Detail.

Und die Engel. Eben noch tat sich der Himmel auf und sie sangen „Friede auf Erden und den Menschen seines Wohlgefallens.“ Der Maler lässt drei von ihnen auf die Geburtsszene blicken. Die beiden aussen in Gebetshaltung. Wenn man genau schaut, geht der mittlere auf Distanz, verschränkt die Arme, wartet ab. „Er ist mir eigentlich von den Figuren auf diesem Bild am nächsten“, sagt mein Freund nachdenklich. „Ich brauche es, selbständig denken und urteilen zu können. Auch in Fragen nach Gott und seiner Bedeutung in meinem Leben. Ich bin überzeugt, viele Menschen machen religiöse Erfahrungen, in- und ausserhalb der Kirche. Dafür offen zu sein, sagt mir der nachdenkliche Engel im grünen Kleid.“ Ich spanne den Gedanken weiter.“Gott in eigenen Erfahrungen wahrnehmen, das ist es, du hast recht.“

Wir waren auf dem Quai bei der Badhütte angekommen. Die Bise war unangenehm stark geworden. Wir schritten auf das Kaffeehaus zu und dachten an den Lichterbaum im Foyer. Unsere Diskussion hatte uns weiter gebracht: „Damit hast du das Wunder beschrieben, auf welches wir an Weihnachten hoffen. Offen zu sein für Licht, Wärme und Liebe, gemeinsam in der Hoffnung auf Frieden, Gerechtigkeit und eine lebenswerte Welt – Gottes Schöpfung.“ Und wir spüren, das ist es, das Weihnachtsgefühl hat sich bei uns eingestellt.

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