Ruth Baumann-Hölzle hat am Jubiläumsanlass «50 Jahre Schweizerischer Verband für Seniorenfragen SVS» im Hotel Bellevue Palace in Bern ein bemerkenswertes Referat gehalten. Seniorweb konnte mit ihr darüber ein Gespräch führen.
Seniorweb: Sie haben am Jubiläumsanlass des SVS ein Referat gehalten mit dem Titel «Der Generationenvertrag in Gefahr?» Sind Sie der Meinung, dass zwischen den Generationen «Gefahr» droht? Wenn ja, woran zeigt sich das?
Ruth Baumann-Hölzle: Dies zeigt sich in vielerlei Hinsicht:
- Die Finanzierung der Sozialwerke ist, wenn man die Zahlen anschaut, aktuell gefährdet. Hier braucht es umfassende Reformen, denn die bisherigen Modelle tragen nicht mehr.
- Die demographische Entwicklung
- kann zu einer einseitigen politischen Interessenvertretung von alten Menschen gegenüber den Jungen führen.
- wird den Bedarf an Betreuungs-, Pflege- und Medizinressourcen stark ansteigen lassen, was zu grösseren finanziellen Ausgaben führen wird.
- Die Umweltsituation spitzt sich zu, sodass zukünftige Generationen nicht mehr die gleichen Chancen auf ein gutes Leben haben, ja in weiten Teilen der Welt nicht einmal die Chance haben, den alltäglichen Bedarf zu decken.
Folgen: Ohne Reformen wird die einseitige Belastung und die ungleiche Interessenvertretung der jungen und der erwerbstätigen Generationen derart steigen, dass es zu negativen Reaktionen gegenüber alten Menschen kommen kann wie Ausgrenzung und soziale Zwänge, der Gesellschaft nicht zur Last fallen zu dürfen. Umgekehrt schwindet auch das Verständnis der alten Generation den Jungen gegenüber, wenn diese von der älteren Generation Solidarität für ihre Probleme und Sorgen einfordern. Ohne Gegensteuer zeichnet sich ein Kampf zwischen den Generationen ab.
Unter dem Stichwort «Humanität» fragen Sie, ob wir in unserem Entscheiden und Handeln hilfsbedürftige Menschen zu wenig berücksichtigen. Wer sollte lokal, national und global was tun?
Generell kann man sagen, dass die Betreuungs- und Pflegeressourcen in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften immer weniger ausreichen. Das war auch der Hintergrund der Schaffung der AHV, dass die Grossfamilie abgenommen haben und die alten Menschen nicht mehr von ihr getragen worden sind. Doch dieser Betreuungsbedarf betrifft nicht nur alte Menschen, sondern auch Kinder und ganz generell alle Menschen in besonderen Abhängigkeitssituationen. Dieser Betreuungs- und Pflegebedarf wird nicht allein über staatliche Leistungen finanzierbar sein. Hierzu braucht es die Solidarität der Generationen untereinander. Schon heute könnte der Bedarf an Unterstützung bei Kindern ohne die aktive Mithilfe der Grosseltern nicht gedeckt werden und umgekehrt ebenso wenig der Betreuungsbedarf der alten Generation. Ohne bewusst gelebte Sorgekultur geht es nicht. Dies bedeutet, dass ehrenamtliche und professionelle Sorgeangebote vermehrt eng vernetzt zusammenarbeiten müssen. Dabei braucht es generell eine neue Prioritätensetzung. Die einseitig auf Funktionalität und Leistung ausgerichtete und durchökonomisierte Gesellschaft hat Mühe, Leistungen zu finanzieren, die kosten, aber keinen Gewinn abwerfen. Das sieht man auch in der Medizin:Palliative Care wird kaum finanziert, teure Behandlungen hingegen schon. Doch das Problem liegt viel tiefer, der Leistungs- und Flexibilitätsanspruch an den Einzelnen steigt kontinuierlich an, sodass immer weniger Lebensraum und Zeit bleibt, persönliche Beziehungen zu pflegen. Langsame Menschen haben es schwer in unserer Gesellschaft. Wer eine Krise erlebt, einen Todesfall, eine Scheidung, krank und betagt wird, führt oft ein langsameres und bedächtigeres Leben. Damit ist die Gefahr gross, aus der Gesellschaft rauszufallen. Entsprechend epidemisch nehmen die Einsamkeit und Unverbindlichkeit zu, und zwar bei Jungen und alten Menschen. Die Einsamkeit betrifft dabei aber auch zunehmend die Funktionsfähigen, wenn sie neben der Arbeit keine Zeit mehr für Beziehungen haben. Gelebte Sorgekultur ist Beziehungskultur. Sorgen ist der Kern menschlicher Verantwortung und Humanität. Diese Verantwortung betrifft aber alle Sorgefähigen, ob jung oder alt. Alter per se ist kein moralischer Anspruch auf Sorge, besondere Abhängigkeiten hingegen schon. Zur Entwicklung einer Sorgekultur vgl. das Beispiel im Kreis Düren unter https://www.in-sorge.de.
Ernst Barlach: Frau Sorge (1924): Der Mensch hat Sorgen und sorgt sich um sich selbst und andere. Eine Sorgekultur ist zu allen Zeiten vonnöten.
Ein obligatorischer Sozialdienst wäre wichtig, um die Sorgekultur lokal und national zu fördern. International erleben wir aktuell grosse Verschiebungen und wie die Einsamkeit nehmen auch Armut und Hunger epidemisch zu. Die viel zitierte Zeitwende führt aktuell auch zu einer starken weltweiten Entsolidarisierung.
Sie fragen auch, ob wir uns für das Wohlergehen zukünftiger Generationen genügend einsetzen? Ist das eine rhetorische Frage? Rufen Sie damit auf zu einem Bündnis zwischen der Klimajugend, den Aktiven in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und den aktiven Pensionierten?
Auf jeden Fall. Das ist aber nicht eine Generationen-, sondern eine Bewusstseinsfrage. Ohne Verhaltensänderung schaffen wir diese Herausforderungen nicht. Hier zeigt sich nun aber auch ein Gerechtigkeitsproblem. Lassen Sie mich das am Beispiel des Reisens erläutern: Das Bedürfnis zu reisen, ist bei vielen alten und jungen Menschen sehr gross. Fordert man nun die Jungen auf, weniger zu reisen, ist dies einschneidender als bei alten Menschen, weil viele Ältere diese Möglichkeiten bereits auskosten konnten. Es braucht Verzichtleistungen von allen Seiten, klar, aber hier sind privilegierte ältere Menschen stärker in der Pflicht. Anders ist es natürlich bei alten Menschen, die ein entbehrungsreiches Leben hinter sich haben.
Es geht aber sehr viel weiter. Die Eingriffe, die wir in die Natur und den Menschen vornehmen und vorzunehmen planen, haben eine unabsehbare und damit auch unverantwortbare Reichweite. Dabei denke ich vor allem an die genetischen Eingriffe. Solche Eingriffe werden aber mit immens starken internationalen Interessen- und Lobbygruppen seit Jahrzehnten vorangetrieben.
Was «Gerechtigkeit» betrifft, erinnern Sie an den ethischen Anspruch, Verteilungs-, Solidar- und Zukunftsgerechtigkeit sicherzustellen. Dazu zunächst eine Frage zur Verteilungsgerechtigkeit. Wie können in der Schweiz und weltweit beschränkt vorhandene Mittel gerechter verteilt werden?
Wir brauchen einen Wertewandel. Die herrschende Verbrauchsmentalität zerstört die Lebensgrundlagen. Es ist auch eine Frage des Menschenbildes, welches handlungsleitend ist. Ein solcher Wandel aber ist eine Willensfrage. Hierzu braucht es internationale Koalitionen der Menschen guten Willens. Das Problem ist, dass das Manipulationspotential stetig zunimmt, sei es durch die digitalen Möglichkeiten, aber auch weil die Akzeptanz zunimmt, manipuliert werden zu dürfen. Dies stärkt die manipulativen Kräfte und entmachtet die Menschen. Die Freiheit ist aktuell enorm in Gefahr. Eine gerechtere Verteilung erreichen wir nur, wenn die Macht der multinationalen Unternehmen eingeschränkt wird. Während der Coronapandemie bin ich erschrocken, wie wenig z.B. die immensen Gewinne der Unternehmen von den Medien kaum thematisiert und hinterfragt wurden, auch nicht von den Linken.
Es ist ja so, dass in einem Staat die Chancen und Handlungsmöglichkeiten ungleich verteilt sind. Solidargerechtigkeit meint, dass diejenigen mit mehr Chancen und Handlungsmöglichkeiten sich solidarisch zeigen zu den Benachteiligten, indem zwischen Begünstigten und Benachteiligten ein Ausgleich geschaffen wird. Was könnte in dieser Hinsicht politisch stärker priorisiert werden?
Hier möchte ich nochmals an der bewusst gelebten Sorgekultur anknüpfen, aber es braucht auch den politischen Willen dazu. Wie in meinem Referat erwähnt, ist es hilfreich, dies nach John Rawls mit dem Schleier des Nichtwissens im Rahmen eines echten ethischen Dialogs zu tun. Dabei ist nicht von einem einseitigen Interessensstandpunkt auszugehen, sondern eine Perspektive des guten Lebens für alle zu verfolgen. Schliesslich sind die Augen der Justitia ja auch verbunden, damit sie die Interessen aller unter dem Gerechtigkeitsgesichtspunkt gegeneinander abwägen und keine Partikularinteressen verfolgen kann.
Die ethische Forderung nach Zukunftsgerechtigkeit meint ja u.a. auch, dass die aktuell Pensionierten sich für die zukünftig Pensionierten einsetzen sollen. Haben Sie hier konkrete Vorschläge?
Hierzu braucht es Organisationen wie den SVS. Verantwortliche Alterspolitik reduziert sich jedoch nicht auf reine Interessenpolitik für alte Menschen, sondern nimmt differenziert eine ganzheitliche Perspektive ein, indem auch die Perspektiven der jungen Generationen berücksichtigt werden.
Sie unterscheiden in Ihrem Referat auch zwischen dem Bedarfs- und dem Bedürfnisanspruch der Menschen. Unter Bedarfsanspruch fassen Sie die Sicherung des alltäglichen Lebens zusammen, also die Stillung der existenziellen Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst, aber auch Krankenversicherung, Kleidung, Wohnen und die Ermöglichung sozialer Kontakte. Vertreten Sie den Standpunkt, dass ein Staat dafür zu sorgen hat, dass dieser Bedarfsanspruch für alle, für Arm und Reich, gestillt ist? Sind wir in diesem Bereich in der Schweiz gut unterwegs?
Ja, den Bedarfsanspruch stellt ein humaner Staat für alle sicher und er befähigt alle Menschen, über den Bedarf hinaus, auch ein gutes Leben führen zu können. Auch bei uns nimmt die Einsamkeit enorm zu. In der Schweiz sind wir im Vergleich zu anderen Staaten hinsichtlich der Bedarfsdeckung relativ gut unterwegs. Im Bereich der Befähigung zum guten Leben haben wir Handlungsbedarf. Zudem haben wir viele dunkle Bereiche, die ausgeleuchtet werden müssten.
Unter dem Begriff «Bedürfnisanspruch» verstehen Sie den «Anspruch auf Aktivitäten des guten Lebens». Ist damit gemeint, dass alle in ihrem individuellen Streben nach einem glücklichen Leben eigenverantwortlich unterwegs sein sollen, dass also der Staat nicht ein glückliches Leben garantieren kann, nur für Glücksbedingungen im Sinne der Erfüllung von Bedarfsansprüchen zu sorgen hat?
Dies trifft auf Menschen zu, die dies auch können. Deshalb ist der Staat verantwortlich dafür, die Menschen, insbesondere die Kinder, dazu zu befähigen. Wer aber selber nicht dazu in der Lage und unfähig ist, sich ein gutes Leben zu ermöglichen aufgrund von Beeinträchtigungen, hat Anspruch darauf, dass der Staat diesen Menschen hilft, ihre Bedürfnisse zu stillen über den alltäglichen Bedarf hinaus, wie dies etwas Martha Nussbaum vertritt.
Besten Dank für das Gespräch!
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle ist Institutsleiterin der Stiftung Dialog Ethik, siehe unter https://www.dialog-ethik.ch
Zur Entwicklung einer Sorgekultur, vgl. das Beispiel im Kreis Düren, Nordrhein-Westfalen, unter https://www.in-sorge.de/
Martha C. Nussbaum: Fähigkeiten und Behinderungen, in: Nussbaum, M.C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010, S. 218 – 309.