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Ganz harmlos und schön tödlich

«Tea Time» heisst der neuste Kriminalroman der 87-jährigen deutschen Schriftstellerin Ingrid Noll. Wiederum sind es Frauen ganz ohne kriminelle Energie, die umständehalber zu Mörderinnen werden. Weil es sich einfach nicht vermeiden lässt.

Sechs Frauen sind es diesmal, in Nolls 17. Kriminalroman. Etwas verschroben sind alle, angefangen von der Erzählerin, der Apothekerin Nina, die mit Vorliebe «arme Kräutlein» zwischen Steinfugen fotografiert, ein Kindheitstrauma und eine Tante hat, für deren Babypuppe sie gerne die Patenschaft übernehmen würde. Ihre Freundin Franzi ordnet zwanghaft alle Teppichfransen, deren sie habhaft werden kann, schreibt und liest gerne in Spiegelschrift und kann ganze Sätze rückwärts sprechen.

Zu den beiden Freundinnen kommen die Lehrerinnen Corinna und Eva und dann noch Jelena und Heide dazu. Alles gestandene Berufs- oder Familienfrauen, wenn auch etwas aus der Norm fallend. Ob Ohrenwackeln, extreme Gelenkigkeit, die Zukunft aus Wolkenformationen oder Kaffeesatz lesen, als Voyeurin durch Gärten schleichen oder als Trauerrednerin zu Tränen rühren – so einen kleinen Spleen haben alle diese überaus sympathischen Damen. Deshalb schliessen sie sich auch zusammen, zum Club der Spinnerinnen.

«Gemütliche» Treffen

Der Vereinszweck ist einfach: Ab und zu ein Sektfläschchen oder zwei oder drei köpfen, sich über ihre Macken unterhalten und sich auch mal von einem Clubmitglied zu einer Exkursion überreden lassen. Ob das nun «Besuche» in fremden Häusern sind – etwas Kleines darf dabei schon mal «entliehen» werden – oder ein einfaches Picknick im Schlosspark. Alles, was etwas Abwechslung in der Berufs- oder Familienalltag bringt, ist willkommen.

Die Zukunft aus Wolkenformationen lesen? Warum nicht?

Dass Nina im Schlosspark ihre Handtasche liegen lässt, ist ein dummer Fehler. Denn der Finder, per Zufall der Ex einer der Spinnerinnen, beordert Nina zu sich in die Wohnung und will dort den Finderlohn gleich in Naturalien einfordern. Nina wehrt sich mit einem kräftigen Stoss gegen den Bauch des nach Alkohol riechenden Blödmannes, dieser kracht gegen ein vollgestelltes Regal und – da ist Nina schon durch die Türe geflüchtet.

Noll lässt drei Mal sterben

Das ist etwas wie der erste Todesfall des Herrn Haase, der sich allerdings schnell davon erholt und Nina wieder zu nahe kommt. Auch als Schnapsleiche lebt er fröhlich weiter. Dafür kommt noch ein weiterer Mann ins Spiel, ein «einsamer Wolf». Zwar harmlos, aber trotzdem gefährlich: Allein seine Existenz bedroht die Freundschaft zwischen Nina und Franzi. Aber Noll lässt den Wolf weiterleben, während der Haase mit einem unbekömmlichen Kräutertee ins Jenseits abwandern muss – diesmal endgültig.

Ein Tee aus Eisenhutblättern – trinkt man nur einmal. (pixabay)

Ingrid Nolls Romangestalten sind immer mehr oder weniger ausgeprägte, Spinner. Oder, wie in diesem Roman, Spinnerinnen. Und Gift ist in der Regel das probate – weibliche – Mittel, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Auch im neusten Roman ist das so. Nolls Protagonistinnen morden still und so nebenher, also eigentlich erst dann, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Diese unterschwellige Gefahr, diese unterdrückten Gefühle, machen ihre Bücher so einzigartig.

Ingrid Noll: Tea Time. 2022. 300 Seiten. Diogenes Verlag. ISBN 978-3-257-07214-3

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2 Kommentare

  1. Für alle frustrierten Frauen, die in ihrer Ehe, Partnerschaft, im Beruf oder sonst wo nicht glücklich sind, empfehle ich die schönen Mörderbücher von Ingrid Noll. Sie sind so leicht zu lesen, ja es macht eine teuflische Freude und der Weg zum Morden geht immer einen plausibeln Weg und ist absolut nachvollziehbar; der Mistkerl hat es nicht besser verdient. Etwas logischeres als diese Morde gibt es schlicht nicht. Es ist ja nicht so, dass sie es von Anfang an darauf angelegt hat. Die Dinge entwickeln sich einfach in diese Richtung, fast schicksalshaft. Ihre Bücher zu lesen ist immer wieder eine Freude für mich. Man bekommt praktisch eine Anleitung zum stillen und sehr gut durchdachten Moden in die Hand.

  2. Sorry, es sollte natürlich «Morden» heissen; es war auch schon spät, als ich diesen Text schrieb 😉 Nachstossen möchte ich noch, dass die «Mordsbücher» von Ingrid Noll natürlich «nur» brillante Gedankenspiele sind, also mein letzter Satz nicht so ernst genommen werden sollte, obwohl mich das schöne Bild des Eisenhuts dazu inspirierte. Auf jeden Fall musste ich auch beim zweiten Durchlesen der Kolumne laut herauslachen und habe immer wieder eine grosse Freude an Frau Reichlins gekonnten Formulierungen. «Tea Time» werde ich mir zu Weihnachten gönnen. Danke.

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