«Die Bestie des Krieges» lautet der Titel einer Ausstellung, in der das Open Art Museum St. Gallen einer Galerie in Kiew Raum gibt, Naive Kunst aus der Ukraine zu präsentieren.
Wir wissen es, nicht nur Menschen, Gebäude, Industrieanlagen sind in der Ukraine bedroht durch Russlands mörderischen Krieg, auch Kunst und Kultur sind gefährdet. Das Open Art Museum (früher Museum im Lagerhaus) tritt in die Reihe der helfenden Kulturinstitutionen im sicheren Teil Europas. Das dient nicht nur dem Schutz der Kunstwerke, sondern gibt uns Gelegenheit, Kunstschaffende kennenzulernen, von denen wir bisher nichts oder nur Unvollständiges wussten.
«Die Bestie des Krieges» heisst das Gemälde der berühmtesten ukrainischen Vertreterin der naiven Malerei: Maria Prymachenko (1909 – 1997). Ihr Haus in der Nähe von Kyiv, das nach ihrem Tod als Museum eingerichtet worden war, fiel der russischen Zerstörungswut schon am 2. Tag der Invasion zum Opfer. – Ihre Werke zieren den Umschlag der Universal Encyclopedia of Naive Art und die UNESCO hatte das Jahr 2009 zum Jahr der Maria Prymachenko erklärt.
Maria Prymachenko (1909–1997), Die Bestie des Krieges, 1970er-Jahre, Gouache auf Papier, 55 x 75 cm, RODOVID-Gallery Collection (Kyiv), © 2023 by Maria Prymachenko Family Foundation
Als junges Mädchen erlebte sie den ersten Weltkrieg, im zweiten Weltkrieg verlor sie ihren Ehemann und musste ihren Sohn alleine grossziehen; sie kannte also die Schrecken des Krieges. Da sie als Kind an Kinderlähmung erkrankt war, also weniger herumlief als andere Kinder, verbrachte sie viel Zeit mit Sticken und dekorativer Hausmalerei. Volkskunst wurde damals in der Sowjetunion als Ausdrucksform der Arbeiter und Bauern gefördert. Maria durfte Kurse am Kunstmuseum Kyiv besuchen und erhielt sogleich eine Auszeichnung für ihre Werke. Seitdem wurden ihre Arbeiten in internationalen Ausstellungen gezeigt. 1959 wurde sie Mitglied der Künstlervereinigung der Ukraine, und 1966 erhielt sie den Shevchenko-Preis. Über 600 Werke der Künstlerin befinden sich heute in verschiedenen ukrainischen Museen und Privatsammlungen.
Yakylyna Yarmolenko (1918–um 1970er Jahre), Porträt von Luzenko, 1930er-Jahre, Öl auf Leinwand, 71 x 51,5 cm, RODOVID Gallery Collection (Kyiv)
Naive Kunst ist im besten Sinne des Wortes Volks-Kunst und besitzt eine starke identitätsstiftende Kraft für die Kulturgeschichte eines Landes. – Gerade in der Schweiz ist uns diese Form vertraut. – Diese Ausstellung zeigt rund fünfzig Werke von 23 Künstlerinnen und Künstlern aus der RODOVID-Galerie, Kyiv, kuratiert von Lidia Lykhach, der Gründerin dieser Galerie.
Vater und Tochter
Panas Yarmolenko (1886 – 1953) lebte in der Region Kyiv. Soldat im 1. Weltkrieg, arbeitete er später in einer Kolchose und auf seinem eigenen Gehöft, der Malerei widmete er sich in seiner Freizeit. Ob Yarmolenko eine künstlerische Ausbildung genossen hat, lässt sich nicht mehr eruieren. Im Alter lebte er mit seiner Familie in Pereiaslav, arbeitete als Künstler im lokalen Kulturhaus und unterrichtete Malerei an der ersten Mittelschule. Die meisten seiner Gemälde entstanden zwischen 1932 und 1945. Am eindrucksvollsten sind seine Porträts, mit denen er eine alte Tradition, angelehnt an die Ikonenmalerei, fortzusetzen scheint.
Panas Yarmolenko (1886–1953), Porträt von Olha Bozhko und ihrem Bruder Wolodymyr, 1946, Öl auf Leinwand, 88,5 x 118 cm, RODOVID-Gallery Collection (Kyiv)
Yakylyna Yarmolenko (1918 – nach 1970), seine älteste Tochter, war künstlerisch begabt, hatte jedoch keine Ausbildung in dem Bereich. Sie half ihrem Vater beim Malen seiner Werke und verkaufte diese auf dem Basar. Sie schloss eine Ausbildung am landwirtschaftlichen Institut in Kyiv ab, arbeitete aber kaum als Bäuerin. Sie malte viel, verkaufte ihre eigenen Bilder aber selten. Eher half sie ihrem Vater bei seinen Arbeiten. Yakylyna signierte ihre Werke nicht einmal.
Sofia Homeniuk (1921–2001), Regenbogen, 1966, Gouache auf Papier, 30 x 32 cm, RODOVID-Gallery Collection (Kyiv)
Frauen – Stickerinnen und Blumenmalerinnen
Darstellungen des Lebensalltags sind zentral in der Naiven Kunst, nicht nur in der Ukraine. Auffallend sind die ausdrucksstarken Porträts, die oft repräsentativen Charakter besitzen. In der ukrainischen Naiven Kunst ist diese Art der Malerei sowohl mit den Parsunas (den Ikonen ähnlich) verbunden als auch mit der Tradition zeremonieller Kosakenporträts des 17. und 18. Jahrhunderts. Die ersten Fotostudios in der Provinz mit ihrer eigenen Ästhetik der inszenierten Fotografie übten einen grossen Einfluss auf die Entwicklung dieses Genres aus. Trotz Stilisierung und Vereinfachung erfassen sie individuelle Charaktere. Sorgfältig ausgearbeitet erscheinen die Porträts kaum noch «naiv». Grenzen zwischen Realismus, Neuer Sachlichkeit und Naiven verwischen.
Maria Prymachenko (1909–1997), Die Blumen auf Schwarz, 1960–1970er-Jahre, Gouache auf Papier, 45 x 33,5 cm, RODOVID-Gallery Collection (Kyiv).
Viele ukrainische Künstlerinnen beginnen mit floralen Wandmalereien an ihren eigenen Häuser, in der Nachbarschaft und bei Verwandten. Benannt nach dem Zentrum der volkstümlichen Kunst in der Ukraine, der Ortschaft Petrykivk, ist die Petrykivka-Malerei ein dekorativer Stil, der lokale Flora und Fauna zeigt und reich an Symbolik ist. 2013 wird die Petrykivka-Malerei von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Einige Malerinnen in der Ausstellung stehen in dieser Tradition. Sie benutzen einfache Farben und spezielle Pinsel, teils aus Gras.
Während der Titel der Ausstellung auf die gegenwärtige Lage anspielt, wirkt die Ausstellung selbst friedvoll, heiter durch die farbigen Blumenbilder und würdevoll in den Portraits. Sie wird begleitet von einem Katalog in ukrainischer, englischer und erstmals auch in deutscher Sprache. Es finden viele – auch interaktive – Veranstaltungen zu Kunst und Kultur in der Ukraine statt.
Die Bestie des Krieges. Naive Kunst aus der Ukraine. Bis 25. Februar 2024.
Open Art Museum Sankt Gallen, Davidstrasse 44.
Titelbild: Maria Prymachenko (1909–1997), Vogel, 1990er-Jahre, Gouache auf Papier, 19 x 24cm, RODOVID-Gallery Collection (Kyiv), © 2023 by Maria Prymachenko Family Foundation.