In den Jahrzehnten um 1900 war sie eine erfolgreiche Schriftstellerin: Isabelle Kaiser schrieb Romane, Erzählungen und Gedichte auf Französisch und Deutsch. Ein gerade erschienenes «Lesebuch» soll sie aus der Vergessenheit zurückholen.
Zu ihren Lebzeiten war Isabelle Kaiser (1866-1925) eine bejubelte Schriftstellerin. Wenn sie zu Lesungen in grosser weisser Robe erschien, jubelte ihr ein ganzer Saal zu. «Fans» wurden ihre Bewunderinnen und Bewunderer noch nicht genannt. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass schon damals Literaten sich auf den Weg zu ihrem Publikum begaben, nicht allein auf das gedruckte Wort vertrauten. Und Isabelle Kaiser wusste sich wohl vorteilhaft in Szene zu setzen.
Isabelle konnte sich früh darauf verlassen, dass ihre Arbeiten Beachtung fanden. Schon als ganz junge Frau erhielt sie Preise für ihre französischen Texte und Gedichte. Sie hatte ihre Kindheit und Jugend nämlich in Genf verbracht und war mit Französisch aufgewachsen. In den 1880er Jahren war die Familie zurück nach Zug gezogen, später lebte sie an ihrem Geburtsort Beckenried NW, zuerst mit ihrer Mutter in deren Haus. 1902 konnte sie sich dort ihr eigenes Haus bauen lassen, die Eremitage, die heute noch zu besichtigen ist. Dort lebte sie bis an ihr Lebensende.
Isabelle Kaiser, Fotografie des Zürcher Fotograf Johannes Meiner um 1899 / commons.wikimedia.org
Ihr Leben war geprägt von Krankheit und Tod. Die Autorin verlor ihren Bruder und ihren Vater in jungen Jahren. Auch ihr Grossvater verstarb früh und eine ihrer beiden Schwestern stürzte aus dem Fenster.
Isabelle selbst litt lange Jahre an Tuberkulose. Einige ihrer Erzählungen spielen an Kurorten, in denen sie sich wohl selbst aufgehalten hat. Denn sie muss trotz allem eine weltläufige Frau gewesen sein, sprachgewandt und bestrebt, ihre Freundschaften zu pflegen. Carl Spitteler gehört zu diesen, er blieb ihr stets ein treuer Freund. Die beiden verband ihre traditionelle, katholische Lebenseinstellung.
Befreundet mit Nobelpreisträger Carl Spitteler
Ein wenig aus der Zeit gefallen, erscheint uns die Schriftstellerin zuweilen. Während andere sich für die Gleichberechtigung einsetzten, als «Blaustrümpfe» verschrien, scheinen ihre Texte eher zurückzublicken in eine Gesellschaft ohne Revolutionen oder technischen Fortschritt, der im Leben um die Jahrhundertwende längst Einzug gehalten hatte. Ihre Selbständigkeit verdankte sie dem Vermögen ihrer Familie.
«Nachtzug» handelt vom Zug, der über den Gotthard nach Italien fährt. Die Eisenbahn ist hier allerdings nur ein Element der Spannung: Inmitten eines starken Föhnsturmes fordert der nahende Zug vom Streckenwärter äussersten Einsatz. Damals gab es keine automatische Streckenüberwachung. Hier ist es Domini Selm, der täglich kontrolliert, ob an der Bahnstrecke alles in Ordnung war. Da passiert das Schreckliche: Ein Erdrutsch blockiert die Bahnstrecke. Wie der einfache Mann mit allem, was ihm zur Verfügung steht, versucht, ein Unglück zu verhindern, beschreibt die Autorin hinreissend. In seinem Vorwort nimmt der Zürcher Literaturprofessor Philipp Theisohn diese Erzählung zum Ausgangspunkt für seine lesenswerte Einführung in das Werk von Isabelle Kaiser.
Erzählen – ihre Leidenschaft
Ein Hauch von Melancholie zieht sich durch viele Geschichten – und doch: Isabelle Kaiser ist eine lebendige Erzählerin, die es versteht, Spannung zu erzeugen und die Höhepunkte geschickt zu setzen. «Finelis Himmelfahrt» ist ein Beispiel dafür: Das kleine, zarte Mädchen leidet an einer Krankheit, die scheinbar nicht geheilt werden kann. Der Priester kommt für die Letzte Ölung und alle in der Familie und der Nachbarschaft sind überzeugt, dass Finelis letzte Stunden gekommen sind. Dann findet die Erzählerin eine Wendung, die niemand mehr erwartet hat.
Eine andere Geschichte ist wohl autobiografisch geprägt: «Wie ich Herzogin wurde» handelt von einem Ausritt der Erzählerin während des Aufenthalts bei einer befreundeten Familie. Die Icherzählerin, eine begeisterte Reiterin, darf mit einem der besten Pferde und dem Stallmeister einen Reitausflug machen. Wie die Reiterin darauf reagiert, dass die Frauen und Männer in dem kleinen Städtchen sie irrtümlich für die Herzogin selbst halten und entsprechend hochachtungsvoll oder begeistert grüssen, ist amüsant geschildert. Zurück im Hof, fragt der Stallmeister sie, wie sie sich als Herzogin gefühlt habe. Ihre Antwort ist ebenso schlagfertig wie ironisch: «Ich bin eine Kaiserin.» – Logisch, das ist ihr Familienname.
Melancholie und Humor
Allen, die sich nicht an der zuweilen veralteten Ausdrucksweise stören, aber Menschenfreundlichkeit, gutes Beobachten und genaues Erzählen schätzen, sei dieses Lesebuch zu empfehlen. Die Autorin wandelt den Undine-Stoff um und spinnt daraus eine ganz neue Geschichte. Die Szenen mit bettelnden Kindern in Rom, die fast unheimliche Erzählung «Auf dem Leuchtturm» – in all ihren Texten fesselt uns Isabelle Kaiser.
Leider kann nicht verschwiegen werden, dass die Texte viele Druckfehler enthalten, mehr als in unseren gehetzten Zeiten zu erwarten sind, zumal sie zum Teil das Verständnis stören. Wenn nicht im Impressum eine Lektorin und eine Korrektorin genannt wären, könnte man vermuten, dass die Korrekturen nur digital erfolgt wären. – Schade!
Isabelle Kaiser: Ein Lesebuch. Hrsg. von Jana Avanzini.
Mit einem Vorwort von Philipp Theisohn und einem Nachwort von Dominik Riedo. Weber Verlag Thun. 291 Seiten.
Mit vielen alten Fotografien der Schriftstellerin und ihrer Familie.
ISBN 978-3-905927-76-4