Es ist etwas aus der Mode gekommen, das eher bescheidene Maiglöckchen, das früher im Mai in keinem Brautstrauss und bei Festivitäten an keinem Decolleté der jungen Mädchen fehlen durfte. Die süss duftenden Maieriesli standen für Unschuld und Bescheidenheit – diese Tugenden sind heute ja eher weniger gefragt.
«Roti Rösli im Garte, Maieriesli im Wald …» dieses Kinderlied ist wohl vielen noch vertraut. Wobei ich bereits als Kind über die Verse gestolpert bin. Denn in unserem Garten blühten die Maieriesli, die Maiglöckchen, deutlich früher als die Rosen.
Aber lassen wir die Botanik. Ein Sträusschen Maieriesli bezaubert auch heute noch, durch die zarten Glöckchen und mehr noch wegen ihres Duftes. «Muguet» stand auf dem Parfümfläschchen meiner Grossmutter und der Maieriesliduft, das «Blüemliwasser», soll auch bei Ohnmachtsanfällen geholfen haben. Und die sind ja auch etwas aus der Mode gekommen …
Ein ganzer Strauss von Gedichten – Maieriesli animieren seit jeher zum Schwelgen in Frühlingsseligkeit.
Ebenso wie die schwärmerischen Gedichte, die den Frühling besingen: «Der Duft bricht das Eis des Winters und der Herzen.» schrieb Heinrich Heine. Felix Mendelssohn hat das Gedicht von Hoffmann von Fallersleben «Maiglöckchen und die Blümelein» vertont: «Maiglöckchen spielt zum Tanz im Nu / Und Alle tanzen dann, / Der Mond sieht ihnen freundlich zu, / Hat seine Freude dran.» heisst es in der dritten Strophe. «Läuten kaum die Maienglocken, / leise durch den lauen Wind, / hebt ein Knabe früh erschrocken, / aus dem Grase sich geschwind.» beginnt Joseph von Eichendorffs Gedicht, der das Erwachen der Natur mit dem Erblühen des Maierieslis vergleicht. Doch nun genug der Huldigung an das so zarte, unschuldige Blümchen.
Maieriesli, der Eroberer
Denn das Maieriesli ist nicht nur der Inbegriff der emotionalen Frühlingsseligkeit, es hat noch andere Seiten. Es ist erst mal nicht ganz so bescheiden, wie es in den Versen besungen wird. Mit seinen unterirdisch kriechenden Rhizomen erobert es, gefällt ihm der Standort im feuchten, humusreichen Halbschatten, bald schon grössere Gartenareale. Kleinere Pflanzen wie zum Beispiel Krokus oder Veilchen werden dabei einfach überrannt und erstickt.
Schön, ja lieblich – und ziemlich giftig. Maiglöckchen sind nicht so harmlos, wie sie aussehen …
Dazu ist die Pflanze für Tiere und Menschen giftig. Vor den Blättern wird jedes Frühjahr gewarnt, könnten sie doch mit dem zwar etwas früher austreibenden Bärlauch verwechselt werden. Mit fatalen, im schlimmsten Fall sogar tödlichen Folgen. Auch die im Sommer reifenden knallroten Beeren enthalten starke Giftstoffe: Bereits nach einigen Stunden treten Übelkeit, Atemnot, Schwindel und Kreislaufversagen auf. Auf Kinder wirken die Beeren verlockend, weshalb in Gärten, wo sich Kinder aufhalten, die abgeblühten Maiglöckchenstängel am besten abgeschnitten werden.
… und ihre Blätter sollten keinesfalls mit denen des Bärlauch verwechselt werden. Sonst wird ein angebliches Bärlauchpesto schnell mal zu einem lebensgefährlichen Genuss. (Alle Bilder pixabay)
Allerdings sind es genau diese Toxine, die das Maiglöckchen auch zu einer Heilpflanze machen. Im Mittelalter war die Blume Bestandteil des «Goldenen Wassers», «Aqua aurea», das bei Augenkrankheiten, Schwindel und «Fallsucht» (Epilepsie) verschrieben wurde. Manchmal auch bei Gicht oder Sommersprossen. Die herzstärkende Wirkung des Blümchens war bei den Ärzten des Humanismus (14.-16. Jahrhundert) so beliebt, dass sie die «Salus mundi», «das Heil der Welt» genannte Pflanze zu ihrem Standesemblem erkoren.
Und noch heute wird die herzstärkende Wirkung in der Homöopathie geschätzt und bei Atemnot, Ödemen und Herzinsuffizienz verabreicht. Was ja wieder einen Bogen schlägt zu den glöckchenklingenden Versen und den duftenden Sträusschen. Poesie erfreut – und stärkt vielleicht auch – das Herz und wer den Duft der Maieriesli ganz tief einatmet, leidet weniger unter Atemnot.
Unglaublich, was so ein Maieriesli hergibt! Ich kannte bisher nur den Duft in kleinen Parfumfläschchen und das Kinderlied. Wieder viel dazu gelernt, Danke für den Beitrag.