Wie werden ältere Geflüchtete in den ersten Monaten in der Deutschschweiz begleitet, wenn sie keine Deutschkenntnisse haben, möglicherweise traumatisiert sind und sich neu orientieren müssen? Die Geschäftsstelle Zürich/Schaffhausen des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) unterstützt im Rahmen ihres Programms «HEKS AltuM-Tandem» ältere Menschen, die wegen Krieg oder anderer Bedrohungen ihr Land verlassen mussten.
«HEKS AltuM-Tandem» ist ein Teilbereich des Programms «HEKS AltuM» (Alter und Migration) der HEKS-Geschäftsstelle Zürich/Schaffhausen. Seniorweb traf sich kürzlich mit der ehemaligen, mittlerweile pensionierten «AltuM»-Programmleiterin Aida Kalamujic und Eva Walter, die seit April 2024 das Programm weiterführt.
Aida Kalamujic war 1993 mit ihrer zweijährigen Tochter aus ihrer belagerten Heimatstadt Sarajevo geflüchtet. Zehn Jahre lang hatte die ausgebildete Juristin eine F-Bewilligung, mit der sie indessen nicht arbeiten und ins Ausland reisen durfte. Aber sie engagierte sich jahrelang als Freiwillige im psychosozialen Dienst der Asyl-Organisation Zürich (AOZ) und unterstützte zahlreiche Geflüchtete. Dabei fiel ihr auf, dass besonders ältere Geflüchtete viel Unterstützung und Hilfe brauchen und sie entwickelte deshalb auf privater Basis ein Projekt für ältere bosnische Geflüchtete. HEKS gefiel dieses Projekt und man bot deshalb Aida Kalamujic eine Stelle als Leiterin eines Programms für ältere Migrant:innen aus verschiedenen Herkunftsländern an. So entstand im Jahr 2006 das Programm «HEKS AltuM».
«HEKS AltuM» bietet Migrant:innen ab 55 Jahren sowie Geflüchteten über 50 eine bunte Palette an Informationsveranstaltungen, Café-Treffs, Yoga-Kursen, Gymnastik-Kursen, Schwimmkursen, PC-Kursen, Tanz-Treffs, Tischgesprächen und eben auch das «AltuM-Tandem» an.
Ziel von AltuM-Tandem
Ziel des Angebots ist die Unterstützung von älteren Geflüchteten durch freiwillige Begleitpersonen mit einer ähnlichen Flucht- und/oder Migrationsbiografie. Das Spezielle daran ist die 1:1 Betreuungssituation und dass die geflüchtete und die freiwillig engagierte Person zudem die gleiche Muttersprache sprechen. Damit gelingt den älteren Geflüchteten der Neuanfang in der Schweiz viel besser, die Orientierung im Wohnumfeld und mit den Behörden fällt ihnen leichter.
Pilotprojekt
Von September 2019 bis Dezember 2021 führte HEKS das Programm «AltuM-Tandem» zunächst als Pilotprojekt, im Wesentlichen finanziert und gefördert von der «Age Stiftung» und wissenschaftlich begleitet von der Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz (FHNW). Im Schlussbericht über das Pilotprojekt vom Juni 2022 sind folgende Erkenntnisse festgehalten: «Die älteren Geflüchteten erleben die Begleitung in einer vertrauten Sprache als sehr unterstützend, insbesondere im Austausch mit Ärzt:innen und Behörden. Mehrfach hat sich gezeigt, dass die älteren Menschen nach einer Unterstützung und Begleitung in der eigenen Sprache begannen, erste Worte auf Deutsch zu sprechen und verstärkt bereit und in der Lage waren, sich auf den Spracherwerb einzulassen.» Es ist deswegen nicht erstaunlich, dass «HEKS AltuM-Tandem» nach dieser Pilotphase als reguläres Angebot weitergeführt wurde.
Reguläres Angebot
Im Erfahrungsbericht über die Projektlaufzeit 2022–2023, die von der Age-Stiftung und anderen Geldgebern weiterhin als Förderprojekt finanziell unterstützt wurde, wird der Gewinn für die Geflüchteten mit folgenden Stichworten festgehalten: «Unterstützung durch Begleitpersonen bei der Orientierung in der Gesellschaft; Förderung der sozialen Anerkennung, Förderung der Teilhabemöglichkeiten durch Informationsvermittlung; Vernetzung im Wohnumfeld, Vernetzung durch «HEKS AltuM-«Angebote; Alltagsbegleitung; Thema Vorbereitung auf das Alter wird angegangen; Basiswissen über Alltagsversorgung und das Sozialsystem der Schweiz wird vermittelt; Information zu Gesundheitsthemen/-system; Kenntnis entsprechender Angebote und Institutionen (z.B. Pro Senectute, Spitex uvm.); Verbesserung von Partizipationsmöglichkeiten; Durchbrechen bzw. Vorbeugung von Isolation.»
Zusammen Deutsch üben beim HEKS AltuM-Tandem-Treffen (Foto: Nathalie Tatiana©HEKS)
Auch die freiwilligen Begleitpersonen profitieren nach Aussagen von Aida Kalamujic in verschiedener Hinsicht vom Programm «AltuM Tandem». So können sie eigene, schwierige Integrationserfahrungen weitergeben und kompetente Hilfestellung bieten. Sie sind zum Beispiel motiviert durch die Vorstellung, dass ihre eigenen Eltern sich in einer ähnlichen Situation befinden könnten und sie fühlen sich sehr solidarisch mit den Geflüchteten. Zudem können sie sich mit dieser wertvollen Praxiserfahrung für andere Aufgaben qualifizieren und sich persönlich weiterbilden. Sie gewinnen an Kompetenz, indem sie «AltuM»-Angebote organisieren und Verbindungen zu Behörden und Fachstellen schaffen.
Für Eva Walter ist das Programm auch für die Gesamtgesellschaft ein Gewinn, da ältere Geflüchtete in schwierigen Lebenssituationen lernen, sich in der Gesellschaft zu orientieren und zurechtzufinden, wodurch ihre Lebensqualität verbessert wird. Dies wiederum vermag positive Impulse zu geben für ein inklusiveres Zusammenleben. Die Verbindung von neu geflüchteten mit bereits länger in der Schweiz lebenden Personen mit Migrationsbiografie und mit dem gleichen sprachlichen Hintergrund bietet beiden Seiten einen erheblichen psychischen Mehrwert. Zudem werden Fachpersonen aus verschiedenen Institutionen für die speziellen Herausforderungen von älteren Geflüchteten sensibilisiert.
Eine Herausforderung ist die Rekrutierung von Freiwilligen. Bereits gut integrierte Personen mit Migrationshintergrund sind oft arbeitstätig und haben keine Ressourcen für Freiwilligenarbeit. Oder man findet keine Freiwilligen mit derselben Herkunftssprache wie die zu unterstützenden Personen. Dann wird über die «Benevol»-Plattform, in Vereinen, Kirchgemeinden, Sprachschulen oder anderen HEKS-Projekten nach passenden Begleitpersonen gesucht.
Ältere Geflüchtete werden in der Regel durch Mund-zu-Mund-Propaganda, durch die Asyl-Organisation Zürich, über das «Solinetz», Sprachschulen, Flyer von HEKS und Sozialdienste auf das Programm «AltuM-Tandem» aufmerksam.
Wie wird das Angebot finanziert?
Während der Pilotphase übernahm die «Age»-Stiftung den Hauptteil der Finanzierung. Weitere Unterstützung wurde durch die Stiftung «fondia», die Stiftung «Corymbo» und die «Walder Stiftung» gewährt. Später und bis zu diesem Jahr wurde die Weiterführung «AltuM-Tandem» über die Pilotphase hinaus neben HEKS-Eigenmitteln und Kirchenbeiträgen massgeblich durch die «Age-Stiftung» und die «Walder Stiftung» ermöglicht.
Wird das Angebot «HEKS AltuM-Tandem» weitergeführt?
Das Angebot hat sich bewährt und wird wegen der ungebrochenen Nachfrage weitergeführt. Für die HEKS-Geschäftsstelle Zürich/Schaffhausen ist auch die personelle Weiterführung gewährleistet, obwohl Aida Kalamujic inzwischen pensioniert wurde. Sie bringt als «AltuM-Tandem»-Koordinatorin mit einer Anstellung von 30% weiterhin ihre Erfahrungen ein. Obwohl «HEKS AltuM-Tandem» dank dem Engagement der Freiwilligen relativ kostengünstig ist, sind Spenden immer willkommen und eine finanzielle Unterstützung durch Organisationen, Stiftungen und Einzelpersonen ist weiter notwendig.
Links: https://www.heks.ch; https://www.age-stiftung.ch
Titelbild: Fotoausschnitt aus dem Erfahrungsbericht: Tandem mit einem jüngeren Geflüchteten, der schon längere Zeit in der Schweiz lebt, und einem älteren, neu angekommenem Geflüchteten, der in seiner Muttersprache die erste Orientierung erhält. (Foto bs)