Zehn alte Männer und Frauen erzählen im Landesmuseum Zürich in einer Videoinstallation von ihrer Kindheit in Anstalten als Opfer institutioneller Gewalt.
Nummer zwei des Formats Erfahrungen Schweiz im Landesmuseum thematisiert unter dem Titel Fremdplatziert ein düsteres Kapitel der Schweizer Geschichte: Hunderttausende Kinder und Jugendliche wurden bis in die 1980er Jahre ihren Eltern oder Grosseltern weggenommen und in Heimen, Pflege- oder auch Adoptivfamilien versorgt, wo sie selten geschätzt oder gar geliebt wurden, aber Missbrauch, Gewalt und Sadismus erleiden mussten.
Videoinstallation im Landesmuseum: Diese Frauen und Männer erzählen die Leidensgeschichte ihrer Kindheit als Fremdplatzierte.
Mütter mit unehelichen Kindern wurden gezwungen, diese zur Adoption freizugeben, eine andere Unterstützung wurde ihnen nicht geboten, oft wurden auch sie zur Nacherziehung eingesperrt. Verdingkinder sind ein geläufiger Begriff, wenn es um die Geschichte der Landwirtschaft geht. Auch diese Fremdversorgung aus finanzieller Not oder als Erziehungsmassnahme wurde noch weit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktiziert.
Harte Kinderarbeit als Erziehungsprinzip mit Spareffekt für die öffentliche Hand. Kinder und Betreuungspersonen des Kinderheims «Gott hilft» in Zizers GR auf einem Kartoffelfeld, um 1920. Stiftung Gott Hilft, Zizers
Den nicht sesshaften Familien wurde mit dem Projekt Kinder der Landstrasse des Hilfswerks Pro Juventute keinerlei Unterstützung für die Erziehung angeboten, die Kinder wurden auf brutale und hinterhältige Weise ihren Eltern entführt und fremdplatziert auf dass sie ihre Herkunft als Fahrende vergessen sollten.
Gleichgeschaltet statt individuell gefördert. Zwei Nonnen mit Kindern eines Kinderheims im Wallis, um 1930–1940. Foto: Paul Cattani. Schweizerisches Nationalmuseum
Erst als der kürzliche verstorbene Journalist Hans Caprez (1940-2024) im Beobachter 1972 diesen Skandal aufdeckte, kam sehr mühsam Licht ins dunkle Geschäft mit den Kindern, wurden sich die Verantwortlichen bei Pro Juventute und bei den Behörden überhaupt bewusst, dass diese Fremdversorgung weder hilfreich, noch rechtens war, sondern ein Verbrechen. Die Urheber der Aktion wurden strafrechtlich nie verfolgt. Ein bekanntes Beispiel dieser Massnahme: Der Dichterin Mariella Mehr (1947-2022), ihrerseits als Kleinkind der Mutter weggenommen, wurde der Sohn Christian 1965 entzogen und versorgt. Er leidet heute noch darunter.
Die Aufarbeitung dieses hochproblematischen Umgangs mit Kindern ist noch lange nicht abgeschlossen. Betroffene haben Anerkennung und eine Entschädigung bekommen. Und im Herbst 2025 wird eine Wanderausstellung aufgrund des Nationalen Forschungsprogramm 76 (NPF 76) «Fürsorge und Zwang» in Lausanne gestartet. Die Ausstellung im Landesmuseum ist kein Teil davon, aber ein geeigneter Einstieg in die Thematik.
Erziehungsheime mit strengen Regeln waren das Übliche, um Kinder und Jugendliche zu versorgen. Schlafsaal im «maison de rééducation au travail» in Bellechasse, Sugiez FR, 1940er-Jahre. Staatsarchiv Freiburg
Dass Überlebende auch im Alter unter ihren Traumata leiden, zeigt nun die Videoinstallation im Landesmuseum. Zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen in einer Grossprojektion ihre persönliche Geschichte. Wer sich mit einem Headset hinsetzt und die Projektion anschaut sowie sich an der Vertiefungsstation auf diese dunkle Seite der Schweizer Kindererziehung einlässt, muss damit zurechtkommen, den Raum tief erschüttert und zugleich voller Wut über diese Misshandlungen und diesen Liebesentzug zu verlassen.
Blick auf die Screens der Vertiefungsstation: Hier sind Dokumentationen gespeichert, die Informationen über die Kindswegnahme und deren Aufarbeitung als Hintergrund zu den persönlichen Geschichten bieten.
Nicht alle Schicksale sind gleich schlimm, aber alle sind schlimm genug. Armin (*1927) wurde von seiner unverheirateten Mutter zur Adoption freigegeben, aber da sein Unterhalt in einer Pflegefamilie der Wohngemeinde zu teuer war, wurde er 1934 in der Erziehungsanstalt Sonnenberg in Kriens versorgt, wo er körperliche und psychische Strafen erleiden musste.
Uschi (*1952) war jahrelang zwar schon fremdplatziert, aber nach der Vergewaltigung durch ihren Onkel, der straffrei blieb, wurde das 14jährige Kind aus einer jenischen Familie im Erziehungheim Zum Guten Hirten versorgt, wo Behörden und Angestellte ihre Vorurteile gegen die Jenischen auslebten.
Einige der Berichte sind kaum auszuhalten, beispielsweise der Umgang mit MarlieLies (*1950) einer kleinen Bettnässerin, in einem von katholischen Schwestern geführten Heim. Nicht nur wurde ihr täglich ausreichend Trinken verweigert, sie wurde jede Nacht aufgeweckt und so misshandelt oder eher gefoltert, dass die Zuhörenden sich schockiert fragen, warum die Gesellschaft damals einfach weggeschaut hat.
Die Erziehung zur Arbeit ist wichtig. Ziel ist es, möglichst wenige Personen durch öffentliche Gelder unterstützen zu müssen. Dies gilt für Kinder und Erwachsene. Die Arbeit erfolgt unter Zwang und ohne Bezahlung. Arbeitsraum im Mädchenheim «Lärchenheim» in Lutzenberg AR. Foto: Reto Hügin. StAAG/RBA1-1-8848_1
Die Konfrontation mit den persönlichen Berichten in der Videoinstallation Erfahrungen Schweiz – Fremdplatziert im Landesmuseum ist zwar keine Ausstellung von Objekten aus der Sammlung und aus anderen Quellen, aber der tief berührende virtuelle Einblick in eine düstere und noch gar nicht ferne Zeit der institutionellen Kindesmisshandlung und -ausbeutung in der Schweiz.
Titelbild: Pestalozziheim Redlikon, Stäfa, 1955, Foto: Eduard Bodo Schucht. Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, BAZ_032975. Der Alltag ist durchgetaktet, im Zentrum steht die Arbeit. Freundschaften untereinander oder Kontakte nach aussen werden unterbunden, Briefe zensiert.
Bis 27. Oktober und vom 17. Januar bis 13. April 2025
Hier gibt es weitere Informationen zum Besuch von «Fremdplatziert»
Der Link zur Studie des Nationalfonds «Fürsorge und Zwang»
Buchtipps:
-Michael Herzig Landstrassenkind. Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr. 978-3-03926-064-5
–Isabella Huser: Zigeuner. Bilgerverlag, Zürich. ISBN 978-3-03762-093-9
(Buchbesprechung auf Seniorweb)
Guten Tag, mit grossem Interesse habe ich diesen Artikel gelesen. Ich konnte mich hinein fühlen da ich selber mit 3 Jahren fremdplazier wurde, als Kind einer Arbeiterfamilie.