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Sieben Töne, sieben Tasten, sieben Tänzerinnen

Oft liefert das reale Leben die besten Vorlagen für Roman, Film, Theater. Auch das Schicksal der Clara Wieck (1819–1896), Frau von Robert Schumann und selbst eine bedeutende Pianistin und Komponistin, bietet Stoff für ungezählte Adaptionen. Cathy Marston wählte einen Abschnitt im Leben dieser aussergewöhnlichen Frau als Vorlage für ein abendfüllendes Ballett.

Schon das erste Bild der jüngsten Choreografie der seit August 2023 als Ballettdirektorin am Zürcher Opernhaus tätigen Marston umreisst die Idee, die dem ganzen Abend zugrunde liegt: Musik. Klaviermusik!

Sieben Tänzerinnen, aufgereiht wie sieben Tasten, eine Oktave, am Klavier, stellen sieben Facetten im Leben der Clara Schumann dar: Kind, Künstlerin, Ehefrau,Mutter …

Links eine Wand mit schmalen, hohen Fensteröffnungen und -türen, raffiniert beleuchtet (Licht: Martin Gebhardt), sodass helle Flächen im Wechsel mit dunklen Schlitzen den Eindruck einer riesigen Klaviatur suggerieren: weisse Tasten, schwarze Tasten. Später kommt der geschwungene Resonanzkörper eines Flügels, der als leicht angehobenes Podest in Schräglage eine zweite begrenzte Spielfläche bildet: Insel, Rückzugsort, Freiraum, einmal gar Liebeslager und schliesslich Ort der Einsamkeit, Zwangsrefugium…? Entworfen hat die bezwingend einfachen, «musikalischen» Kulissenelemente, die sich auch verschieben lassen, die Bühnenbildnerin Hildegard Bechtler.

Stringente Bühnengestaltung und Kostüme

Jetzt, zu Beginn, stehen rechts sieben Tänzerinnen, akkurat aufgereiht wie die sieben Tasten, die sieben Töne einer Oktave. Sie tragen weisse, teils plissierte Kleider, deren Brust- und Schulterpartien schwarz eingefärbt sind. Erst bei näherem Hingucken entdeckt man kleine, feine Unterschiede – etwa am Ausschnitt, an den Ärmeln, an der Rocklänge. Diese Kostüme wie aller übrigen hat Bregje van Balen entworfen und sich dabei vage an der bourgeoisen Eleganz der 1850er Jahre orientiert: Grelle Akzente werden vermieden, es dominieren erdige Farben, viel Schwarz und zu Schwarz tendierendes Blau, Grün und Rot.

Die Mutter (Shelby Williams) und der Vater (Esteban Berlanga) und dazwischen «das Wunderkind» Giogia Giani.

Die sieben Claras repräsentieren die unterschiedlichen Phasen, Pflichten und Aufgaben, die Clara Schumann-Wieck im richtigen Leben zu meistern hatte –geradezu eine Steilvorlage für heutige Ratgeber zum Thema Kinder, Küche, Karriere! Ein Spagat, den sie mit bewundernswerter Disziplin, geistiger Regsamkeit und getrieben vom inneren Feuer bewältigte: das Wunderkind (getanzt von Giorgia Giani), die Künstlerin (Ruka Nakagawa), die Ehefrau (Nancy Osbaldeston), die Mutter (Sujung Lim), die Pflegerin (Inna Bilash), die Managerin (McKhayla Pettingill), die Muse (Max Richter).

Biografie mit Lücken

Situationen also, die anhand von Tagebucheinträgen und Briefen überliefert sind. Allerdings bleiben trotz glaubwürdiger Zeugnisse gewisse Details ungeklärt; für die Choreografin allerdings eine Chance. Umso freier kann sie mit dem Material umgehen. Richtschnur und zuverlässigste Quelle bleibe für sie allemal die Musik, unterstreicht Cathy Marston.

Tatsächlich ist die Musik an diesem Abend weit mehr als akustische Unterstützung des Geschehens auf der Bühne. Philip Feeney hat eine überaus schlüssige Partitur eingerichtet aus 28 Originalkompositionen von Clara und Robert Schumann und Johannes Brahms: Kammermusik, einzelne Sätze aus Klavierkonzerten, Klavierstücke, Lieder… Raffiniert verbindet er die originale Musik mit eigenen kurzen, stimmungsvollen Zwischenspielen oder erlaubt sich auch schon mal eine freie Bearbeitung, beispielsweise einiger Lieder für Singstimme und Klavier, und setzt dafür unter anderem Marimbaphon, Harfe und diverse Bläser ein.

Pianistischer Marathon

Ein wichtiger Anteil kommt dabei dem Klavier zu. Ragna Schirmer, eine Kennerin von Clara Schumanns Werk, sitzt am Flügel im Graben (!) und meistert den pianistischen Marathon mit nie nachlassender Präsenz und hinreissender Musikalität. Sie versteht es, ihr Spiel energetisch und emotional stringent in das Treiben auf der Bühne einzubinden und dennoch den eigenen interpretatorischen Ansatz zu wahren. Daniel Capps am Pult der motivierten Philharmonia Zürich sorgt für die präzise Koordination zwischen Graben und Bühne und schafft «Ballettmusik» vom Feinsten.

Clara (Nancy Osbaldeston), die Ehefrau, mit ihrem Ehemann Robert Schumann (Karen Azatyan).

Der Auffächerung in sieben Darstellerinnen ist Ausdruck von Clara Schumanns künstlerisch und menschlich immenser Leistung, gemischt mit verhaltener Sozialkritik. Doch auch wenn die sieben Claras mitunter gemeinsam auftreten, lassen sie sich klar einzelnen Ereignissen zuordnen und führen durch den zweistündigen Abend. Dieser beginnt um etwa 1830 mit der kindlichen Clara, die vom ehrgeizigen Vater zur Klaviervirtuosin herangezüchtet werden soll, und sie endet 1856 mit dem Tod Roberts und dem Wegzug aus Düsseldorf von Brahms.

Eigenständige Ballettsprache

Cathy Marston entwickelt eine immer wieder überraschende Vielfalt an körperlichen Ausdrucksmitteln mit Schrittfolgen, Gebärden, Windungen und Drehungen, Schleif- und Hebefiguren. Diese fussen zwar auf dem Kanon des klassischen Tanzes, gehen aber weit darüber hinaus, indem sie eine eigenständige Körpersprache entstehen lassen. Doch stets wird darauf geachtet, dass nicht allein die konkrete Aktion vertanzt wird, sondern dass Emotionen die Körper der Tanzenden durchdringen. Auffallend sind gewisse, fast leitmotivische Gesten: Die ausgebreiteten Arme, als würde eine ganze Klaviatur umgriffen; die sich pianistisch überkreuzenden Hände; die angewinkelten Arme, was an die Mechanik einer Tastatur denken lässt…

Fulminantes Stuhlballett: Robert Schumann und seine Freunde.

Auch kleine Rollen sind sorgfältig choreografiert. Esteban Berlanga profiliert sich als eisiger Friedrich Wieck, der seine begabte Tochter um jeden Preis fördern will und das auch mit ruppigem Verhalten gegenüber seiner geschiedenen Frau Mariane (Shelby Williams) und deren zweitem Mann Adolph Bargiel (Joel Woellner) sowie, später, auch gegenüber Robert durchsetzt.

Bemerkenswert sind fein gesetzte ironische Akzente, die dem doch eher ernsten Gehalt eine spielerische Leichtigkeit vermitteln. Etwa wenn Robert und seine Kumpels in einem furiosen Stuhlballett tüchtig aufdrehen. Wenn er, im Haus Wiecks, der Haushälterin Christel (Francesca Dell’Aria) Avancen macht, bevor es zum ersten Kuss mit Clara kommt. Und die andern sechs Claras sich für diesen ekstatischen Moment auf die Fussspitzen heben. Subtil ebenfalls, wenn in einem kurzen Auftritt des 2. Akts sich unter den Kostümen der Claras ein rundes Bäuchlein abzeichnet – Clara war unentwegt schwanger und hat acht Kinder zur Welt gebracht.

Die sieben Claras – fast gleich und doch sehr unterschiedlich.

Die Auftritte der Claras in corpore sind besonders magische Momente. Die anmutigen Gestalten mit ihren abgezirkelten Bewegungen und oft auf Spitze wirken dann wie ein antiker Chor, der das Geschehen beobachtet, gestisch kommentiert und verdeutlicht, mal heiter verspielt, des Öfteren aber beklemmend. Beispielweise wenn sie sich wie Klageweiber um den todgeweihten Robert gruppieren, den man nach seinem Suizidversuch auf den Flügel gebettet hat.

Der kraftvolle, virile Karen Azatyan ist ein grandioser Schumann. Er bringt die Genialität ebenso wie die Zerrissenheit des Komponisten mit glühender Intensität zum Ausdruck, lässt aber auch Verletzlichkeit und Melancholie mitschwingen. Und wenn die Ärzte der Irrenanstalt Bonn-Endenich Clara den Besuch ihres sterbenden Ehemanns verwehren – noch einmal erweist sich der Flügel als schicksalsträchtige Insel –, so schluckt man leer…

Der junge Johannes Brahms (Chandler Dalton) und Clara, die Muse (Max Richter).

Im Herbst 1852 spricht der blonde 20-jährige «Herr Brahms aus Hamburg» bei den Schumanns vor und wird binnen kurzem in die grosse Familie integriert. Schumann begegnet dem jungen Kollegen mit geradezu überschwänglicher Begeisterung, was sich in einem schwärmerischen Pas de deux der beiden ausdrückt, in welchem sich Clara ihren Platz behaupten muss. Chandler Dalton gibt den jugendlichen Brahms mit juveniler Emphase, die unterschwellig einen tiefgründigen, komplexen Charakter erahnen lässt. Manierlich, wie er anfänglich mit der Kinderschar spielt. Und beklemmend, wie er nach Schumanns Tod das Haus verlässt, sinnigerweise zu den Klängen des elegischen Mittelsatzes seines 1. Klavierkonzerts, das man als musikalisches Porträt der lebenslänglich verehrten Clara auffassen kann. Er muss seiner Berufung folgen, die ihm auch im weiteren Leben enge Bindungen, eine Ehe gar, verwehren wird.

Den sieben Claras, nach dem Tod des Mannes und dem Wegzug des jungen Johannes Brahms, bleibt die Kunst – noch 40 Jahre lang. (Alle Bilder Opernhaus Zürich / Carlos Quezada)

Zurück bleiben die sieben Claras, nun in schwarzen Kleidern. Ein neuer Lebensabschnitt für die Witwe Schumann beginnt. Sie wird die tragische Zäsur um vierzig Jahre überleben. Ihr letztes Konzert gibt sie als 71-Jährige 1891 in Frankfurt. Applaus für eine bewundernswerte Frau und Künstlerin. Und für einen berührenden Ballettabend!

Nächste Aufführungen 15. und 20. Oktober und weitere unter www.opernhaus.

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