Roger Vontobel, Schauspielchef bei Bühnen Bern, hat auf der grossen Bühne des alten Stadttheaters Gogols Klassiker «Der Revisor» inszeniert: Als aufgedrehte, temporeiche Komödie mit viel Klamauk und bunter Surrealität. Eingeflochten wurden aktuelle Schweizer Korruptionsfälle.
Der Zeitgeist reflektiert auch im Theater aktuelle gesellschaftliche Strömungen, Debatten und künstlerischen Tendenzen. In den letzten Jahren hat sich auf deutschsprachigen Bühnen ein klarer Trend entwickelt, der die Art und Weise, wie klassische Werke interpretiert und präsentiert werden, grundlegend verändert. Klassiker werden nicht mehr klassisch inszeniert, sondern «überschrieben» und an die Gegenwart angepasst.
Hochmut kommt vor dem Fall: Die Familie des Stadtpräsidenten amüsiert sich mit dem Revisor.
Von diesem Trend hat auch Berns Schauspielchef Roger Vontobel Gebrauch gemacht. «Der Revisor» besucht nicht eine russische Provinzstadt, sondern die Bundesstadt Bern, Gastgeber ist der Stadtpräsident, der sich mit willfährigen Direktorinnen sowie einem devoten Richter umgibt. Modernisiert und aktualisiert wurden auch die Korruptions- und Bestechungsskandale: Angespielt wird auf die reale Bananen-Abrechnung eines Berner Regierungsrats, auf Weinpanscherei im Wallis, auf den Blausee-Skandal, auf helvetische Geldwäscherei und Steuerhinterziehung, auf Vetterli-Wirtschaft und Selbstbedienungsmentalität (man denkt hier an die Gratis-Skiabos für Bündner Regierungsräte oder an die Luxusferien für einen Genfer Regierungsrat). Um die Handlungen in der Schweiz zu verorten, wird auf der Bühne stellenweise auch Schweizerdeutsch gesprochen und gesungen.
Wer schweigen kann, profitiert
Die Rahmenbedingungen für Korruption sind immer dieselben: Einmal ins Amt gewählt, nutzen unehrliche Amtsträger:innen sowie Politiker:innen bewusst oder unbewusst ihre privilegierte Stellung aus und bedienen sich schamlos, indem sie Gesetze und Reglemente zu ihren Gunsten auslegen, übersehen oder bewusst missachten. Selbstverständlich wird das Gebaren geheim gehalten. Eingeweiht wird höchstens ein kleiner Kreis von treu Untergebenen, die ihrerseits vom Geldsegen profitieren («Das läuft ja wie geschmiert»).
Der Stadtpräsident empfängt mit seinen Adlaten den Revisor.
Genauso läuft es auch im Stück; Als sich die Kunde verbreitet, dass ein «Revisor» inkognito im Anmarsch ist, setzt der Stadtpräsident (Claudius Körber) alle Hebel in Bewegung, um allfällige Ungereimtheiten zum Verschwinden zu bringen («Er lungert herum, er muss ein hoher Beamter sein»). Die Spitaldirektorin (Isabelle Menke) lässt schmutzige Bettlacken auswechseln. Die Postmeisterin (Jeanne Devos) erhält die Anweisung, dass private Briefe im Postamt nicht mehr gelesen werden dürfen. Der Richter (Jonathan Loosli) muss eine Peitsche aus seinem Büro entfernen. Klar ist aber auch, dass alles beim Alten bleibt, denn der Stadtpräsident gibt mehrfach Order: «Weiter so».
Darlehen als Eigennutz: Eben hat der devote Richter (Hintergrund) seine geldscheinigen Kleider ausgezogen und dem Revisor übergeben.
Dann taucht der Revisor auf (Lucia Kotikova in einer Hosenrolle). Nicht als selbstsichere, wohlgenährte Beamtin, sondern als scheue, hungrige, unsichere Person («Ich glaube, sie halten mich für ein hohes Tier»), die vom Polit-Karussel überschwänglich-schleimig empfangen und mit Kabeljau, Kaviar sowie Fusel bewirtet wird. Der Cellist Matthias Herrmann mixt derweil aus der Parterre-Loge die passende Musik und den Rhythmus hinzu.
Umgarnt und amüsiert
Überrascht von Pomp, von der Freigiebigkeit und scheinbarer Freundlichkeit wird die Besucherin selbstsicherer und bittet die Amtsträger:innen um Darlehen, welche ihr grosszügig gewährt werden. Als dann noch die Frau des Stadtpräsidenten (Milva Stark) und deren Tochter (Lou Haltinner) auftauchen und den Gast umgarnen, ist der Bann gebrochen. Der Revisor inszeniert und verlustigt sich mit den Frauen («Hier kann ich mich amüsieren»). Der Tochter verspricht er sogar die Ehe und versteigt sich in die Behauptung, er sei eine Berühmtheit («wie Tschechow oder Shakespeare».)
Frau Stadtpräsidentin spielt vor dem Revisor mit ihren Reizen.
Das Ende der Komödie ist bekannt: Der Revisor verschwindet mit all dem Geld auf Nimmerwiedersehen. Zurück bleiben die beiden «Clowns des Abends», die Gutsbesitzer (Linus Schütz und Kilian Land). Als «Kind» wirken abwechselnd mit: Lia Walter und Ville Vontobel. Zurück bleiben auch die geprellten Offiziellen, die anfänglich meinen, sie hätten den Gast überlistet. Als sie den Betrug des falschen Revisors erkennen, stürzen sie ins Elend. Ohne Einsicht und ohne Läuterung («Schuld sind immer die Anderen»).
Alles Lug und Trug
Auch als Zuschauer:in ist man geneigt, das Ganze dem Teufel zuzuschreiben und nicht dem kriminellen Gebaren der Regierenden. Gerade in der Schweiz sind die Stimmbürger:innen gerne bereit, zu vergessen, zu verzeihen und fehlbare Politiker:innen nach einer «Anstandspause» wieder zu wählen (Beispiele gibts in den Kantonen Wallis und Genf). Hier wird ein Grundsatz von Gogols Weltsicht erkennbar: Dass «Alles Lug und Trug» ist. Nichts ist so, wie es scheint, man wird fortwährend getäuscht und sollte keinem Offiziellen blind vertrauen.
Gogol und die rappende Revisorin
Nikolai Gogol (Foto) schrieb die Komödie 1835. 1836 wurde sie veröffentlicht. Die Uraufführung fand am 19. April 1836 in Sankt Petersburg im Alexandrinski-Theater statt, die Erstaufführung für Moskau im Mai 1836 im Kleinen Theater. «Der Revisor» ist heute so aktuell wie damals. Regisseur Vontobel setzt in seiner Berner Inszenierung auf Überdrehtheit, Wortspiele, Klamauk, Slapstick und sogar auf Rapp.
Herrlich, wie die falsche Revisorin triumphierend, vergnügt und selbstbewusst über die Bühne rappt, während die Amtsträger:innen entblättert, ohne Kleider, ohne Würde, aber in ihrer ganzen Verlogenheit dastehen.
Die schrillen Kostüme (Ellen Hofmann) passen wunderbar ins groteske Ambiente. Das doppelbödige Bühnenbild (Claudia Rohrer) kommt schlicht daher und ohne Mobiliar aus. Einzig am Schluss regnet es goldene Dukaten vom Himmel. Doch auch dieser Luxus findet mit dem Schlussbild ein Ende.
Stadtpräsident mit Tochter und Gattin: Noch regnet es goldene Dukaten.
Aus ist der Traum auf der Bühne. Im realen Bern geht das politische Leben weiter: Ende November sind Wahlen. Kommt es zu einer Überraschung? Der Stuhl des amtierenden Stadtpräsidenten wackelt.
Titelbild: Die Stadtoberen kleiden sich in Geldscheine, die sie dann aber an den Revisor verschenken. Alle Fotos © Ingo Höhn
Weitere Vorstellungen bis 1.3.2025: LINK
Besonders erwähnenswert ist das 30seitige, reichhaltige Programmheft, in welchem spannende Beiträge zum Thema zu lesen sind: «Korruption made in Switzerland», «Hoch hinaus», «Chlestakof – Auszug aus einem Brief», «Probier’s mal mit Korruption!», «Fast 100 % der Fälle dürften im Dunkeln bleiben.»