Welche Rolle spielt die Nachbarschaft beim Wohnen? Wie nehmen Ältere ihr Wohnumfeld wahr und wie gestalten sie es mit? Solche Fragen stehen im Zentrum des fünften Age Reports, zusammen mit detaillierten Analysen und zahlreichen Grafiken zum Wohnen im Alter.
Fachleute aus Altersorganisationen, aus Bundesämtern, aus der Wissenschaft und Vertretende von Stiftungen trafen sich am 7. November 2024 zur Vernissage des fünften Age Reports im Casino Bern. Begrüsst wurden die Anwesenden von Fleur Jaccard, der Geschäftsführerin der Age-Stiftung, und Fabienne Morand von der Fondation Leenaards. Diese beiden Stiftungen haben den fünften Age Report ermöglicht und finanziert.
Danach moderierte der Altersexperte und Ständerat Simon Stocker ein Gespräch zu den Haupterkenntnissen der Studie mit den beiden Herausgebern, Valérie Hugentobler und Alexander Seifert, und mit François Höpflinger, dem Herausgeber früherer Age Reporte.
Gespräch zu den Haupterkenntnissen des Age Reports V mit Ständerat Simon Stocker (Moderation), Dr. Alexander Seifert, Prof. Valérie Hugentobler und Prof. François Höpflinger (vl.)
Nach François Höpflinger sind seit 2004 zwei wesentliche Veränderungen festzustellen: Erstens wurde die Alternative zwischen «daheim oder im Heim» erweitert durch andere Wohnoptionen, etwa Formen betreuten Wohnens, hausgemeinschaftliche Wohnarten oder generationengemischte Wohnprojekte. Allerdings müssen ältere Menschen mit keinem oder geringem Vermögen oft schlechtere Wohnbedingungen in Kauf nehmen oder treten früher in stationäre Pflegeeinrichtungen ein.
Zweitens: Der frühere Fokus auf private Wohnungen wird erweitert auf die Wohnumgebung in sozialer und räumlicher Hinsicht, als man erkannte, «dass ein gutes, würdevolles Altern eng mit den sozialen Netzwerken (Nachbarschaft, sorgende Gemeinschaft) und kommunalen Rahmenbedingungen (altersfreundliche Gemeinde/Stadt, Quartierentwicklung) verknüpft ist.»
Aktuelle Daten zum Wohnen und Leben im Alter
Alexander Seifert verfasste den ersten Teil des Reports in acht Kapiteln, basierend auf einer schweizweiten und repräsentativen Befragung von 2220 älteren Personen in Privathaushalten und 424 Bewohnenden von Alters- und Pflegeheimen. Am Schluss jedes Kapitels stehen Merksätze, in denen Wichtiges zusammengefasst wird. Hier einige Zitate:
Kapitel 1: Demographische Entwicklung und zukünftige Wohnformen: «Die Babyboomer und nachfolgenden Generationen haben andere Ansprüche an das Leben im Alter als die vorherigen Generationen. Ihre individuellen Lebensstile und Lebensentwürfe beeinflussen auch ihre individualisierten Wohnwünsche.»
Kapitel 2: Beurteilung der Lebenssituation und vielfältige Aktivitäten im Alter: «Auch wenn es vielen über 65-Jährigen finanziell gut geht, empfindet ein Teil die finanzielle Situation als sehr problematisch, «darunter insbesondere alleinstehende Frauen und Personen mit geringem Bildungsstatus. Materielle Altersarmut zeigt sich dabei in zwei Stufen: erstens, wenn das Renteneinkommen und das Vermögen zur Existenzsicherung bei Renteneintritt nicht ausreichen, zweitens wenn im späteren Alter die steigenden Gesundheitskosten aufgrund des erhöhten Betreuungs- und Pflegebedarfs zusätzliche finanzielle Engpässe verursachen.»
Kapitel 3: Haushaltzusammensetzung im Alter: «Viele ältere Personen, genauer gesagt 31 Prozent, teilen ihr Zuhause auch mit Haustieren.»
Kapitel 4: Wohnverhältnisse und altersgerechte Wohnausstattung: Wegen meist kürzerer Wege zu Versorgungsangeboten «kann es durchaus sinnvoll sein, im hohen Alter und bei stärkeren Einschränkungen in eine barrierefreie urbane Wohnung zu ziehen, sofern dies finanziell möglich ist und das soziale Netzwerk nicht allzu weit entfernt ist.»
Die geladenen Gäste im Casino Bern folgen den Ausführungen zum Age Report V mit Interesse, und es gibt sogar Momente des Schmunzelns.
Kapitel 5: Zufriedenheit mit der aktuellen Wohnsituation und Verbesserungsideen: «Die befragten Personen bewerten ihre Wohnsituation als sehr gut.» …. «Neben dem finanziellen Status können auch die vorgefundene Wohnausstattung und die fehlende Barrierefreiheit einer Wohnung die Wohnzufriedenheit schmälern.»
Kapitel 6: Wohnmobilität und zukünftige Wohnperspektiven. «Personen ab 65 leben oft seit mehreren Jahrzehnten (im Schnitt 41 Jahre lang) am selben Ort und ziehen daher meist lieber innerhalb ihres bekannten Wohnumfeldes um als in eine andere Region.»
Kapitel 7: Wohnumgebung und Nachbarschaftsbeziehungen: «Ältere Personen sind in einer Nachbarschaft nicht nur Empfängerinnen und Empfänger von nachbarschaftlicher Unterstützung, sondern auch wichtige Anbietende von nachbarschaftlichen Kontakten und nachbarschaftlicher Unterstützung und tragen somit aktiv zum nachbarschaftlichen Zusammenleben bei.»
Kapitel 8: Technische Hilfsmittel im Alltag: «Obwohl der ‘digitale Graben’ zwischen den jüngeren und älteren Generationen weiter besteht, ist doch erkennbar, dass immer mehr Personen ab 65 vielfältige Technikkompetenzen vorweisen und das Internet intensiv nutzen.»
Die Zitate bilden nur einen sehr kleinen Vorgeschmack auf die Fülle der Daten, die interessierte ältere Personen und Akteure im Altersbereich anregen können zu weiteren Forschungen und Projekten.
Wohnen und Wohnumgebungen im Alter
Im zweiten Teil des Reports werden in sieben Kapiteln von 19 Autorinnen und Autoren sozialräumliche Kontexte des Alterns näher betrachtet. Die Titel der Beiträge geben Hinweise auf behandelte Themen: «Lebensumfeld und Nachbarschaftsbeziehungen»; «In Bergdörfern sozial integriert altern?»; «Einsamkeitsgefühl in der älteren Migrationsbevölkerung am Beispiel der Stadt Lausanne»; «Kommunale Alterspolitik wirkungsvoll gestalten»; «Sozialpolitische Massnahmen zur Aufwertung der Lebensqualität älterer Menschen und des öffentlichen Raums»; «Sorgende Gemeinschaften – Potenziale und Befürchtungen für altersfreundliche Wohnumgebungen»: «Wohn- und Siedlungscoaches für altersfreundliche Nachbarschaften».
Erfreulicherweise gibt die Age Stiftung für den umfang- und inhaltsreichen Age Report V einen 22-seitigen Kompass heraus; Fleur Jaccard dazu im Editorial: «Als Orientierungshilfe navigiert der vorliegende Kompass zu den wichtigsten Erkenntnissen des Berichts, zeigt Veränderungen auf und skizziert mögliche Handlungsfelder für unterschiedliche Akteure und Interessierte aus Sicht der Age-Stiftung.»
Die Hauptverantwortlichen für den Age Report V und den Kompass (vl.): Alexander Seifert, Silvan Wittwer, Fleur Jaccard, Fabienne Morand, Hans Rudolf Schelling, Adrienne Prudente, Valérie Hugentobler, François Höpflinger
Die Teilnehmenden durften ein Exemplar des Age Reports V und des Kompasses mit nach Hause nehmen.
Handlungsfelder aus der Sicht der Age-Stiftung
Silvan Wittwer, Projektleiter Public Affairs der Age-Stiftung, fasst die drei wichtigsten Handlungsfelder aus der Perspektive der Age-Stiftung zusammen:
Erstens sei die Wohnberatung und -begleitung zu fördern. Es gebe zwar einige Wohnberatungsangebote, aber Wohnbegleitungsangebote würden gänzlich fehlen: «Verstärkte Bemühungen beim Aufbau, der Sensibilisierung und dem zielgruppengerechten Zuschneiden von Dienstleistungen sind deshalb dringend notwendig.»
Zweitens belege der Age Report V die Wichtigkeit von Nachbarschaftsbeziehungen für ältere Menschen. Deswegen sollen weitere Räume für soziale Interaktion in der Nachbarschaft geschaffen werden. «Und um diese auszugestalten, spielen klug gebaute Alltagsräume für spontane Begegnungen (z.B. Waschküchen, Laubengänge, Sitzbänke bei Spielfeldern) und Orte für ungezwungenen Austausch (z.B. Treffs, Kaffees, Flohmärkte) in der Nachbarschaft eine zentrale Rolle.» Die Ausrichtung dieser Dienstleistungen sei aber nicht bloss für einsame oder ältere Menschen zu konzipieren, sondern sie sollen «möglichst niederschwellig und altersneutral auf die Bedürfnisse aller Menschen der Nachbarschaft abzielen. Ob jung oder alt, guter Kaffee, einladende Räumlichkeiten und schöne Grünflächen sind für alle attraktiv und bieten somit lokale Begegnungsmöglichkeiten.»
Drittens sei der Zugang zu den digitalen Angeboten immer noch sehr unterschiedlich. Ein wichtiger Faktor sei das Lebensalter: «während 87% aller 65- bis 74-Jährigen einen Internetanschluss haben, sind es bei den 85-Jährigen und Älteren noch 45%. Um die digitale Kluft zu verkleinern, brauche es Bemühungen auf institutioneller und individueller Ebene: «analoge Zugänge zu unerlässlichen öffentlichen Dienstleistungen (z.B. ÖV-Billetts, Bankgeschäfte, Arztbesuche)»; «persönliche Beratung und Schulungsangebote, die digitale Kompetenzen fördern».
Der Age Report V und der Kompass Age Report V können bei der Age-Stiftung bestellt oder als pdf-Dateien kostenlos heruntergeladen werden.
Am 21. November wird der Age Report V an der ZHAW vorgestellt. Anmeldungen sind möglich für eine Teilnahme vor Ort oder online.
Titelbild: Fleur Jaccard, Geschäftsführerin der Age-Stiftung, begrüsst die geladenen Gäste zur Vernissage des Age Reports V.
Fotos: Reto Schlatter © Age-Stiftung