Die aktuellste Schauspielproduktion von Bühnen Bern, «James Brown trug Lockenwickler», liefert gleich drei Superlative: Gezeigt wird das neuste Stück der französischen Dramatikerin Yasmina Reza. Inszeniert hat es der preisgekrönte deutsche Regisseur Stephan Kimmig. Und gespielt wird es von fünf erstklassigen Darstellenden.
Zentrale Themen der Schweizer Erstaufführung sind Identität und Ausgrenzung. Obwohl wir im 21. Jahrhundert leben, ist Anderssein vielerorts noch ein Tabu: Eltern haben Mühe zu akzeptieren, dass ihr Sohn schwul oder queer ist. Die Tochter sieht Gespenster, hält sich für eine andere Person als sie ist. Wie reagieren wir, wenn Nemo behauptet, er sei weder Mann noch Frau, sondern ein drittes Geschlecht? Wie fühlen sich Secondos/as oder Flüchtlinge ohne Rückkehrmöglichkeit? Identifizieren sie sich als Schweizer und Schweizerinnen oder als Fremde? Was ist normal, was fällt aus der Norm?
Jacob Hutner (Claudius Körber) glaubt, er sei Céline Dion.
Im Bühnenstück «James Brown trug Lockenwickler» begegnen sich im Park einer psychiatrischen Einrichtung zwei jungen Männer, beides Patienten. Jacob Hutner (Claudius Körber) glaubt, er sei die berühmte Sängerin Céline Dion. Er wurde von seinen Eltern Lionel Hutner (Jan Maak) und Pascaline Hutner (Isabelle Menke) eingewiesen, um ihn auf «den richtigen Weg» zurückzubringen, das heisst zu therapieren und zu «heilen». Beim zweiten Burschen handelt es sich um einen Weissen, der glaubt, er ein Schwarzer: Philippe (gespielt von Kilian Land) solidarisiert sich mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und mit seinem auffälligen Mitpatienten. Autorin Yasmina Reza nennt ihr Werk eine «Fantasie über die Identität oder die Verschiedenheit».
Die Eltern Hütner (Isabelle Menke und Jan Maak) haben Mühe, die neue Identität ihres Sohnes zu akzeptieren.
Gegenüber den Eltern Hutner sieht die behandelnde Ärztin (Susanne-Marie Wrage) kein Problem im Identitäts- und Rollenwechsel der Jungs. Wir sollten uns aussuchen, wer wir sein wollen, meint sie selbstbewusst. Mit ihrem Verhalten deutet sie gleichzeitig an, dass auch sie nicht der Norm entsprechen will: Während den Elterngesprächen tanzt sie leichtfüssig durch den Garten oder fährt mit ihrem Patienten auf einem Roller durch den Park. Trüge sie nicht einen weissen Kittel, man würde sie nie und nimmer für eine Ärztin halten.
Pflanzt Feigenbaum: Philippe (Kilian Land) glaubt, er sei anders, ein Afro-Amerikaner.
Am Beispiel eines Feigenbaums, den die beiden Burschen im grossen Garten pflanzen, entwickelt sich ein Dialog über die Natur. Kann der exotische Baum in der Kälte des Plattenbodens gedeihen? Steht die Natur nur für Norm, oder lässt sie auch andere Erscheinungsformen, Pflanzen, Lebewesen, Menschen entstehen, die nicht der Norm entsprechen? Die Schaukel, die grosse Sitzbank (Ausstattung Sigi Colpe), alles im Garten ist in Bewegung, wie im richtigen Leben auch. So pendelt das grossartige Spiel der fünf Protagonistinnen und Protagonisten zwischen statischen und bewegten Momenten hin und her.
Im Laufe des Stücks wird Jacob immer mehr zu Céline und trägt sogar Lockenwickler. Nicht nur äusserlich ist die Verwandlung frappant, sondern auch innerlich. Sein Freund Philippe und die Ärztin helfen ihm dabei, in Einklang mit sich selbst zu kommen. Céline träumt, ein Star zu sein. Höhepunkt ist ihr Auftritt im Klinikgarten, als sie ein Liebeslied singt. Als Zuschauer glaubt man, die kanadische Sängerin vor sich zu haben. Faszinierend die Kopfstimme, mit der Körber Dion imitiert (Musik Michael Verhovec). Erstaunlich seine authentischen Bewegungen. Da entschuldigt man auch das Schnäuzchen, welches das biologische Geschlecht des Schauspielers verrät.
Die neue Identität ihres Sohnes wird für das Ehepaar Hutner zur Zerreissprobe.
Keine Freude am Liebeslied hat Vater Hutner (er hält das Ganze für «gaga» und für einen «Clownzirkus»), während die Mutter zwischen Faszination und Irritation hin und her schwebt. Die Eltern dürfen nun ihr Kind nicht mehr «Schnuppi» nennen, bringen aber den neuen Vornamen «Céline» nicht über die Lippen.
Als der «verlorene Sohn» mit gepackten Koffern zu einer Tournee aufbricht, wird die Stimmung frostig: Frustriert, traurig und gebrochen verlassen die Hutners die Klinik, während ein überglücklicher Jacob in Harmonie mit sich selbst seine neue Céline-Identität geniesst und entschwindet (Licht: Rolf Lehmann).
Und die Moral?
Jacob und Philippe haben selbst entschieden, wer sie sein wollen. Die Bühneneltern müssen es wohl oder übel akzeptieren. Dies scheint in unserer hiesigen Gesellschaft noch nicht die akzeptierte Realität zu sein. Auch die Politik und der Gesetzgeber hinken hinterher, sind noch nicht so weit. Stephan Kimmigs Inszenierung bringt die hängigen Fragen der «neuen Seelenwelt» auf den Punkt. Seine in allen Details liebevoll gestaltete Produktion unterhält und zwingt gleichzeitig zum Nachdenken. Ohne ins Moralisieren abzugleiten.
Identität ist komplex und mehrschichtig. Verständlich, dass hier Yasmina Rezas «Fantasie» und Kimmigs Inszenierung mehr Fragen als Antworten liefern: Beeinflussen die Biologie, die Natur mein Identitätsgefühl? Was muss geschehen, dass meine Seele, mein Ich, mein Umfeld meine neue Identität akzeptieren? Wer hat das Recht zu bestimmen, welche Identität ich mir selber gebe?
Patient und Ärztin: Rauschende Fahrt durch den Anstaltsgarten (Kilian Land und Susanne-Marie Wrage).
Was ist normal?
Der Feigenbaum wächst einseitig. Ist er trotzdem eine normale Pflanze? Wird er «normaler», wenn man seine kahle Seite nach Westen dreht? Ist der Baum ein illegaler Einwanderer, der – verachtet und negiert – am falschen Ort wächst? Weshalb benehmen sich die in der «alten Welt» lebenden Eltern Hutner wie Spielverderber und akzeptieren die neue Identität ihres glücklichen Sohnes nicht?
Eltern hoffen, lieben, freuen sich über ein sogenannt «normales» Kind, das den gängigen Konventionen, ihren Erwartungen entspricht. Was passiert, wenn ihr Kind von der alten Norm abweicht, sich anders fühlt, anders sein will, sich anders kleidet und damit gegen gesellschaftlichen Regeln verstösst? Die Realität ist traurig: Aus einem unschuldigen Wesen kann ein deprimierter, an sich selbst zweifelnder Mensch werden. Wollen wir das?
Die Identität der Autorin
Yasmina Reza (2016) ist auch Autorin der in Bern bereits bekannten Gesellschaftskomödie «Der Gott des Gemetzels».
Aufgrund ihrer Biografie könnte man denken, dass Identität für die für ihre Gesellschaftskritik bekannte französische Autorin Yasmina Reza ein Problem darstellt. Doch dem ist nicht so: Die Frage, wie es sich mit jüdischen und iranischen Wurzeln lebt, beantwortete sie 2014 überraschend nüchtern: «Ich habe keine spezielle iranische Ader. Ich habe nach nirgendwo eine Ader.» Auf den Hinweis, sie habe im Roman «Nirgendwo» festgehalten, sie bewahre von der Kindheit keine Spuren, kaum Erinnerungen, präzisierte Reza: «Ich denke, dass mir meine Eltern von ihrer Jugend, ihren Ländern, ihrer Sprache und auch von ihrer Religion nichts übertragen haben. Ich habe höchstens einen Gefallen für einige Dinge bewahrt, so etwa die Musik. Abgesehen davon kann ich nicht sagen, dass ich von irgendwoher komme. Ich habe nie eine Heimat besessen, und ich lebe zufällig in Frankreich. Die einzige Heimat, die ich kenne, ist die französische Sprache.»
Weshalb Lockenwickler?
James Brown.
Bleibt die Frage nach dem Titel des Theaterstücks «James Brown trug Lockenwickler»: Weshalb hat die beliebte Autorin und Dramatikerin diesen Titel gewählt, der auch im Text vorkommt?
Der afro-amerikanische Jazzmusiker James Brown entspricht mit seiner lockigen Haarpracht ganz und gar nicht der Norm. Unter einem farbigen US-Jazzmusiker stellen wir uns einen Mann mit krausem Afro-Look vor. Ob dies der Natur entspricht, bleibe hier dahingestellt. Dennoch: James Browns ungewöhnliche Haarpracht suggeriert, dass der 2006 verstorbene Musiker Lockenwickler benutzte. Vater Hutner stellt im Stück konsterniert fest: „Er (Jacob) trägt Lockenwickler!“ Worauf Mutter Hutner antwortet: „James Brown trug auch Lockenwickler!“.
Titelbild: Die Eltern Hutner haben Mühe, die neue Identität ihres Sohnes anzuerkennen. Isabelle Menke (rechts), Jan Maak (links), Claudius Körber (Mitte). Theaterfotos: Florian Spring. Porträts Y. Reza und J. Brown: Wikipedia.
Weitere Aufführungen in den Vidmarhallen 1 noch bis 5. April 2025
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