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Gefühls-Chaos mit Happy End

Das Theater an der Effingerstrasse zeigt aktuell und als Silvesterstück eine französische Ehekomödie mit ernstem Hintergrund: Ein Psychoanalytiker und seine Ehefrau, eine Konzertpianistin, leben sich auseinander und entdecken erst nach einem Suizidversuch des Mannes, worauf es in einer Beziehung ankommt. Schwarzer Humor, brillant inszeniert von Markus Keller.

Julien Adler, ein gefragter Psychoanalytiker und Therapeut (gespielt von Wolfgang Seidenberg), versucht etwas unbeholfen, sich umzubringen, bevor seine Frau, eine Starpianistin, von ihrer Konzertreise nach Hause kommt. Mit der Putzfrau ist abgemacht, dass diese das Haus sauber macht, bevor Madame eintrifft und den erhängten Ehemann findet.

Unbeholfen: Julien beim Versuch, den finalen Strick richtig zu knüpfen.

Als Zuschauer/Zuschauerin erlebt man, wie dem Suizidkandidaten das Schreiben eines Abschiedsbriefs mehrfach misslingt und Julien mit Hilfe einer Anleitung aus dem Internet verzweifelt versucht, den richtigen Knoten zu knüpfen. Das Anfangsbild wirkt makaber, aber auch ausgesprochen witzig.

Als Sophie Adler (Judith Seither) vorzeitig im Wohnzimmer steht, bricht der lebensmüde Mann seinen Suizidversuch in letzter Sekunde ab. Die Gattin ist schockiert. Weniger wegen dem Beinahe-Suizid, sondern weil ihr Ehemann die Frage nach dem Warum nicht beantworten kann. Julien ist, befrachtet mit Selbstzweifeln, nicht in der Lage zu erklären, weshalb er sich umbringen wollte. Für einen Psychoanalytiker ein sehr komisches Verhalten.

Am Strick: Sophie verlangt von ihrem Mann eine Erklärung für den Suizidversuch.

Nun beginnt ein Spiel mit Dialogen zwischen grosser Lebensfreude und tiefstem Abgrund: Gemeinsam versuchen die beiden eine Nacht lang, eine Lebensbilanz ihrer Ehe zu ziehen: Gefühlswelten, Kinder, berufliche Erfolge, Misserfolge, Glück, Liebe, Erfüllung aber auch Krisen und Misserfolge kommen zur Sprache. Die Emotionen der Adlers wechseln im Sekundentakt zwischen Glück und Frust, zwischen Ablehnung und Zuneigung. Das Gefühlschaos in der bürgerlichen Stube (Bühnenbau: Peter Aeschbacher) ist perfekt.

Die Gattin versucht krampfhaft herauszufinden, woran ihr Mann leidet. Als sie – so nebenbei – von einer eben erhaltenen Auszeichnung als Pianistin erzählt, bricht es aus Julien heraus: Er sei als Psychoanalytiker gescheitert, erhalte – anders als Künstlerinnen und Künstler – weder Zuspruch noch Applaus. Man sollte einen Preis für Therapeuten schaffen, schlägt er vor. Langsam kommen die Gründe für seine Lebensmüdigkeit auf den Tisch: Nun erkennt auch er sein berufliches Burn-Out und konstatiert selbstverschuldete Langweile in der Ehe. «Ich wollte so viel mehr und ich habe versagt.»

Depression: Julien überkommt das Gefühl, dass er beruflich wie privat versagt hat.

Darauf gesteht auch die erfolgreiche Pianistin, dass sie gescheitert ist. Die Feier nach der Preisverleihung habe sie geschwänzt, um nach Hause zurückzukehren und die drängenden Ehefragen mit Julien zu klären. «Wir wollten nicht so leben wie andere», lautet ihre ernüchternde Bilanz.

Wie weiter? Suizid oder Neuanfang im Ausland? In ihrer Not entscheiden sich die beiden, an die Wärme zu fliegen und gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Doch bevor es losgeht, versuchen sie, ihren beiden erwachsenen Kindern einen Abschiedsbrief zu schreiben. Auch diesmal will das Vorhaben nicht gelingen. Die Vorlage für das Schreiben liefert schliesslich die Putzfrau, die nach einem erfolglosen Hausbesuch per Kurznachricht fristlos kündigt. Julien und Sophie sind erlöst, und die Komödie, die völlig unfranzösisch makaber begonnen hat, endet mit einem Happy End.

Frustriert: «Wir wollten nicht so leben wie andere.»

Hausregisseur Markus Keller ist eine unterhaltende, humorvolle, bittersüsse Inszenierung mit Tiefgang und vielen berührenden Momenten gelungen. Bizarr, wie Sophie ihren verzweifelten Julien aus dem gemeinsamen Schlafzimmer wirft und sich dann doch um ihn kümmert, als dieser, auf dem Fussboden schlafend, wilde Albträume durchlebt und laut herumschreit. Romantisch-komisch, wie sich die beiden auf dem Stubenboden lieben und über die Bühne flitzen (Kostüme Sarah Bachmann), als um sieben Uhr die bestellte Putzfrau klingelt. Die beiden Protagonisten ziehen alle Register ihres schauspielerischen Könnens.

Romantik: Versöhnung auf dem Wohnzimmerboden.

Französische Komödien sind kulturell anders geschrieben als deutsche, liest man im Programmheft. Die flüssige, schnelle französische Sprache wirkt in den Dialogen anders als die eher schwerfällige deutsche. In diesem Punkt kommt dem erfahrenen Berner Regisseur  Markus Keller und der perfekt zweisprachigen Schauspielerin Judith Seither das grosse Verdienst zu, den Text der Autorin Audrey Schebat sowie die deutsche Übersetzung von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand auf eine vernünftige Version gekürzt und flüssig gemacht zu haben. So bleibt die Balance zwischen Unterhaltung, Identitätssuche und Sinnfragen auf der Bühne im Theater an der Effingerstrasse erhalten.

Drei Fragen an Schauspieler Wolfgang Seidenberg (62), der im Stück den Psychoanalytiker Julien Adler verkörpert:

Seniorweb: Wie erleben Sie als Wolfgang Seidenberg den Suizidversuch mit dem Strick?

Wolfgang Seidenberg: In drei Phasen. Erstens bin ich anfänglich mit technischen Dingen wie mit dem richtigen Knüpfen der Schlinge beschäftigt und konzentriere mich darauf, das Seil über den Haken zu werfen, ohne dass es hängen bleibt. Dann stehe ich auf dem Klavierstuhl und überlege ganz kurz, wie es wäre, wenn ich nun springen und das Seil um meinen Hals sich zuziehen würde. In der dritten Phase gehe ich in meine Rolle zurück und überlege, was in Julien vorgeht, wenn für ihn unerwartet seine Ehefrau ins Zimmer kommt und er den Suizidversuch abbricht.

Was macht im Theater eine gute Komödie aus?

Drei Dinge: Tempo in den Dialogen, überraschende Wendungen mit extremen Gegensätzen und ein lustvolles Spiel auch über ein trauriges Thema.

Komödien enthalten Botschaften. Wie lautet die Botschaft des Stücks «Der Abschiedsbrief»?

Beziehungen können nur funktionieren, wenn man miteinander redet und in Verbindung bleibt. Ohne kontinuierliche Kommunikation nebeneinander zu leben, führt auf die Dauer zu Konflikten und letztlich zum Ende einer Beziehung. Julien und Sophie merken dies erst im letzten Moment. Erst als der Schock sich gelöst hat, sind sie bereit, ehrlich miteinander umzugehen.

Titelbild: Julian Adler liest seiner Gattin aus den verworfenen Abschiedsbriefen vor. Alle Fotos Severin Nowacki.

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THEATER AN DER EFFINGERSTRASSE

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